Ein Krieger kehrt heim
Ein traumatisierter Soldat kehrt in seine Junggesellenwohnung zurück. Da brechen Emotionen und Visionen zu Gewalt aus.
Barocke Stimmkunst und heutige Psychologie
WIEN. Wie passt der Plot einer barocken Oper in die heutige Zeit? Das Theater an der Wien präsentiert seit Sonntag eine erstaunliche Antwort: Exakt am 260. Todestag Georg Friedrich Händels war die Premiere von dessen Oper „Orlando“. Regisseur Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt liefern kein semiidyllisches Barock-Zaubertheater um den vor enttäuschter Liebe rasend gewordenen ExKriegshelden Orlando aus den Zeiten Karls des Großen. Wie oft beim Analytiker Claus Guth und seiner Vorliebe für ausgedachte Vorgeschichten spielt sich das Drama vorwiegend in den Köpfen des Bühnenpersonals heutigen Zuschnitts ab: in deren Emotionen und Visionen, in Wahn und Schmerz.
Da muss man sich erst zurechtfinden, aber es funktioniert – man denke nur daran, wie Claus Guth bei den Salzburger Festspielen an Mozarts Da-Ponte-Opern herangegangen ist.
Barock und Händel pur ist im Theater an der Wien allerdings die Musik, Giovanni Antonini dirigiert sein Ensemble Il Giardino Armonico – ein Originalklang, geprägt vom beseelten Zugang. Auf diese Begleitung konnte sich das Bühnenpersonal aus ausgesuchten, koloraturerprobten Barockstimmen verlassen und selbst Farben einbringen, da war in den Rezitativen und Da-capo-Arien sorgfältig gearbeitet worden. Zwei Sopranistinnen und zwei Countertenöre, dazu ein markanter Bass, die jeweils aus Extremsituationen vokale Funken schlagen, das machte Freude, wie die Premierenbegeisterung kundtat.
Als Publikumsliebling tat sich Florian Boesch hervor, der das Kabinettstückerl des Abends ablieferte. Die Zauberkräfte dieses Zoroastro, der den abgetakelten Kriegsheimkehrer Orlando vom Faulbett der Liebe wieder zu Ruhmestaten treiben will, sind beschränkt, allerdings ist Boesch als Zoroastro wandlungsfähig. Ihn zeigt Claus Guth einerseits als Bürokraten mit rationalem Antrieb, andererseits ist Zoroastro eine Art Philosoph, sobald er sich in einen versoffenen Sandler verwandelt. Wie Boesch da herumwankt und in seiner schräg gegrölten Arie noch einen Rülpser unterbringt – das macht ihm niemand nach!
Das Ganze findet im tristen, aber nicht charmefreien SüdamerikaAmbiente eines drehfreudigen Betongebäudes statt. Im Durchgang steht ein Sportwagen, der Angelica und ihrem Liebhaber Medoro zur Flucht vor Orlando dienen sollte. Dieser mit brutaler Gewalt vertraute Mann gerät langsam außer Kontrolle, als er nach seiner Rückkehr die Neuorientierung seiner „Königin“entdeckt.
Die Romantikerin Dorinda betreibt eine Imbissbude, sie muss die Abkehr des Medoro verschmerzen. Wie bei Händel löst sich zuletzt, nachdem Orlando vorgeblich seine Rachemorde im Wahn ausgeführt hat, wofür Claus Guth beängstigende Szenen eingefallen sind, doch alles positiv auf.
Christophe Dumaux ist ein viriler, athletischer Orlando mit Prachtkoloraturen, gepeinigt von schmerzhaften Anfällen und Visionen, dass man fast Mitleid empfindet. Die wunderbare Anna Prohaska ist die laszive Angelica, die mit dem traumatisierten Ex-Kämpfer nicht mehr zurechtkommt. Countertenor Raffaele Pe ist als Medoro rollengerecht harmlos, stimmlich aber ausgezeichnet. Als Dorinda ist Giulia Semenzato eine bezaubernde Erscheinung. So wird bei aller psychologischen Tiefenbohrung von Claus Guth der Abend zum Fest barocker Stimmkunst.