Keine Angst vor Shitstorms: Online geprügelt, real geliebt
Vor drei Monaten wagte ein 117 Jahre alter Rasierer-Hersteller Unerhörtes: Gillette, weltweit in mehr als der Hälfte der Männer-Haushalte zu finden und (noch) klarer Marktführer in der Nassrasur, stellte einen provokanten Videoclip ins Internet. Darin werden Mobbing, PoGrapschen, Sexismus, Gewalt und subtile Erniedrigung von Frauen als Verhaltensweisen von gestern dargestellt. Statt wie früher für „das Beste im Mann“zu werben, appelliert die Marke des Konsumgüterriesen Procter & Gamble unter dem Titel „The best men can be“(„das Beste, was Männer sein können“) für ein neues Verständnis von Männlichkeit. Der Clip zeigt Männer, die dazwischengehen, wenn Kinder verprügelt oder Frauen belästigt werden. Das eineinhalbminütige Video sorgte weltweit für Debatten. Ist es legitim, wenn ein Konzern den Zeigefinger erhebt und den Menschen sagt, was sie tun sollen? Noch dazu, wenn die Marke Gillette Generationen von Männern früher das Gegenteil eingeimpft hatte, nämlich dass starken Typen mit glatter Haut die Welt und auch die Frauen zu Füßen lägen, ohne auch nur einen Finger rühren zu müssen?
1,4 Millionen „Daumen runter“-Bewertungen bekam der kurze Film auf dem Videokanal YouTube bisher. Mit 787.000 „Daumen rauf“ist die Zustimmung deutlich geringer. Die Verärgerung vieler Nutzer führte sogar zu Boykottaufrufen ähnlich wie beim Sportartikelhersteller Nike. Dieser hatte mit dem US-amerikanischen Football-Spieler Colin Kaepernick geworben, der aus Protest gegen die Ungleichbehandlung Farbiger zum Klang der Nationalhymne nicht aufstehen wollte. Damals verbrannten einzelne Konsumenten ihre Nike-Schuhe.
Das Erstaunliche ist: Die klare Position hat beiden Unternehmen nicht geschadet. Bei Nike ist das auf der Straße sichtbar. Im Magazin „brand eins“werden repräsentative Umfragen in den USA und Deutschland zitiert, wonach die überwiegende Mehrheit der Seher des Gillette-Clips das Bekenntnis zur neuen Männlichkeit sogar positiv bewertet.
Das lehrt zweierlei: Erstens wollen Konsumenten und Jobbewerber wissen, wofür ein Unternehmen steht, dem sie ihr Geld oder ihre Schaffenskraft geben sollen. Beides ist kostbar. Folglich müssen Unternehmen den Mut entwickeln, zu sagen, wofür sie stehen. Geld verdienen zu wollen reicht nicht mehr als Daseinsberechtigung. Wobei es mit Reden nicht getan ist. Taten müssen folgen: Wer eine neue Männlichkeit einfordert oder gegen Rassismus auftritt, muss im eigenen Unternehmen Rollenstereotype durchbrechen und alles tun, um eine bunte, vielfältige Belegschaft aufzuweisen.
Zweitens sollten Unternehmen aufhören, sich vor Shitstorms über die Maßen zu fürchten. Denn die Onlinegewitter werden in ihrer Aussagekraft und Wirkung überschätzt.