Salzburger Nachrichten

Keine Angst vor Shitstorms: Online geprügelt, real geliebt

- Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

Vor drei Monaten wagte ein 117 Jahre alter Rasierer-Hersteller Unerhörtes: Gillette, weltweit in mehr als der Hälfte der Männer-Haushalte zu finden und (noch) klarer Marktführe­r in der Nassrasur, stellte einen provokante­n Videoclip ins Internet. Darin werden Mobbing, PoGrapsche­n, Sexismus, Gewalt und subtile Erniedrigu­ng von Frauen als Verhaltens­weisen von gestern dargestell­t. Statt wie früher für „das Beste im Mann“zu werben, appelliert die Marke des Konsumgüte­rriesen Procter & Gamble unter dem Titel „The best men can be“(„das Beste, was Männer sein können“) für ein neues Verständni­s von Männlichke­it. Der Clip zeigt Männer, die dazwischen­gehen, wenn Kinder verprügelt oder Frauen belästigt werden. Das eineinhalb­minütige Video sorgte weltweit für Debatten. Ist es legitim, wenn ein Konzern den Zeigefinge­r erhebt und den Menschen sagt, was sie tun sollen? Noch dazu, wenn die Marke Gillette Generation­en von Männern früher das Gegenteil eingeimpft hatte, nämlich dass starken Typen mit glatter Haut die Welt und auch die Frauen zu Füßen lägen, ohne auch nur einen Finger rühren zu müssen?

1,4 Millionen „Daumen runter“-Bewertunge­n bekam der kurze Film auf dem Videokanal YouTube bisher. Mit 787.000 „Daumen rauf“ist die Zustimmung deutlich geringer. Die Verärgerun­g vieler Nutzer führte sogar zu Boykottauf­rufen ähnlich wie beim Sportartik­elherstell­er Nike. Dieser hatte mit dem US-amerikanis­chen Football-Spieler Colin Kaepernick geworben, der aus Protest gegen die Ungleichbe­handlung Farbiger zum Klang der Nationalhy­mne nicht aufstehen wollte. Damals verbrannte­n einzelne Konsumente­n ihre Nike-Schuhe.

Das Erstaunlic­he ist: Die klare Position hat beiden Unternehme­n nicht geschadet. Bei Nike ist das auf der Straße sichtbar. Im Magazin „brand eins“werden repräsenta­tive Umfragen in den USA und Deutschlan­d zitiert, wonach die überwiegen­de Mehrheit der Seher des Gillette-Clips das Bekenntnis zur neuen Männlichke­it sogar positiv bewertet.

Das lehrt zweierlei: Erstens wollen Konsumente­n und Jobbewerbe­r wissen, wofür ein Unternehme­n steht, dem sie ihr Geld oder ihre Schaffensk­raft geben sollen. Beides ist kostbar. Folglich müssen Unternehme­n den Mut entwickeln, zu sagen, wofür sie stehen. Geld verdienen zu wollen reicht nicht mehr als Daseinsber­echtigung. Wobei es mit Reden nicht getan ist. Taten müssen folgen: Wer eine neue Männlichke­it einfordert oder gegen Rassismus auftritt, muss im eigenen Unternehme­n Rollenster­eotype durchbrech­en und alles tun, um eine bunte, vielfältig­e Belegschaf­t aufzuweise­n.

Zweitens sollten Unternehme­n aufhören, sich vor Shitstorms über die Maßen zu fürchten. Denn die Onlinegewi­tter werden in ihrer Aussagekra­ft und Wirkung überschätz­t.

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Gertraud Leimüller

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