Rote Fäden führen quer durch Europa
In der 16. Ausgabe des Filmfestivals Crossing Europe ist viel über Vergangenheit zu erfahren.
LINZ. Knallrosa ist die Leinwand, und Benni schreit. Mit diesem rauen und zugleich zärtlichen Auftakt aus „Systemsprenger“und vier weiteren Filmen begann am Donnerstag in Linz Crossing Europe, das dem europäischen Filmschaffen gewidmet ist. Das Filmfestival – nach Viennale und Diagonale das drittgrößte in Österreich – zeigt bis nächsten Dienstag rund 150 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus 48 Ländern.
Benni, die neunjährige Heldin von „Systemsprenger“, ist ein Kaputtmachkind. Sie fliegt aus allen Fürsorgeeinrichtungen, die eigene Mutter fürchtet sich vor ihr. Erst ihr Schulbegleiter Micha, der auch 16jährige delinquente Burschen zur Räson bringt, wagt einen Versuch. Doch es kommt anders.
„Systemsprenger“(ab September im Kino) hat bei der Berlinale den Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven in der Filmkunst bekommen und handelt von etwas Großem: der Urangst vor dem Verlassenwerden. Der Film geht durch Mark und Bein und bietet eine fantastische Eröffnung zu einem Festival, das vielleicht noch nie so wichtig war, wie Intendantin Christine Dollhofer zur heurigen Ausgabe sagt: „Nie war die Diskussion um die Zukunft Europas so tonangebend wie in den letzten Monaten.“Eine Europawahl stehe bevor. Damit ist auch das Festival, das vor 16 Jahren als optimistisches Über-die-Binnengrenzen-Europas-Schauen begonnen hat, politischer denn je.
Neu ist heuer die Jugend-Schiene „YAAAS!“, die von jungen Kuratorinnen vorgestellt wird. Ansonsten ist das Festival so vielfältig wie gewohnt. Auffallend ist allerdings, wie viele Beiträge sich mit der Vergangenheit befassen – auch abseits des bemerkenswerten „Spotlight Iris Elezi“, in dem die albanische Filmkonservatorin Iris Elezi Kinofilme aus der Zeit der Enver-HoxhaDiktatur zeigt.
Auch in anderen Filmen im Programm wird zurückgeschaut – auf die eigene Familie, Gesellschaftsbewegungen oder politische Ereignisse, sei es satirisch zugespitzt wie in „The Announcement“über einen türkischen Militärputschversuch 1963 oder breit gefächert wie Thomas Heises „Heimat ist ein Raum aus Zeit“, der entlang der eigenen Familien von Deutschland im 20. Jahrhundert berichtet.
Im Wettbewerb läuft „Putin’s Witnesses“des russischen Dokumentaristen Vitaly Mansky, einst Leiter der Dokumentarfilmabteilung des Staatsfernsehen, der aus seinem eigenen Filmmaterial in der Rückschau einen persönlichen Blick auf die Machtübernahme Putins wirft. Und bestürzend aktuell ist die Dokumentation „We Did What Had to Be Done“über die Rolle der Frauen im Nordirlandkonflikt. Diesen roten Fäden quer durchs Programm zu folgen ist das eigentliche Abenteuer bei diesem Festival.