Was kommt nach Lissabon?
Bundeskanzler Sebastian Kurz hat eine neue Reformdebatte über die EU angestoßen. Auch Experten sind uneins: Nach dem Brexit-Chaos müsse sich etwas ändern, sagen die einen, andere halten das für ziemlich unrealistisch.
Knapp vor der Wahl zum EU-Parlament forderte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz eine Änderung des EU-Vertrags. Der ÖVP-Chef will eine kleinere EUKommission, nur noch einen Sitz des EU-Parlaments und effiziente Sanktionen für Schuldenländer sowie Verschärfungen bei der Migration. Die SN gingen der Frage nach, wie realistisch die Pläne sind.
1. Der Vertrag von Lissabon als mühsamer Kompromiss
Der gültige EU-Vertrag heißt nach dem Ort seiner Unterzeichnung „Vertrag von Lissabon“und wurde in der portugiesischen Hauptstadt am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs der damals 27 EU-Staaten feierlich unterschrieben. Diesem Festakt war ein langes Ringen vorausgegangen. Denn schon 2001, als der bis Lissabon maßgebliche Vertrag von Nizza unterzeichnet wurde, bekundeten die EU-Staatschefs den Willen zu einem Reformwerk. Es gab einen Konvent für eine Verfassung von Europa und bald nach der EU-Osterweiterung auch einen Text, doch die Franzosen und die Niederländer lehnten sie 2005 in Volksabstimmungen ab. Erst Mitte 2007 gab es grünes Licht für Neuverhandlungen. Die wichtigsten Änderungen waren eine Aufwertung des EU-Parlaments zum gleichberechtigten Gesetzgeber (mit dem Rat der EUStaaten) sowie die neue Vertretung nach außen mit dem Außenbeauftragten und dem Ständigen Präsidenten des Europäischen Rates. Doch dann lehnte 2008 das Volk von Irland den Vertrag von Lissabon ab. Erst nach einem zweiten Referendum auf der Insel 2009 konnte der neue EU-Vertrag in Kraft treten.
2. Wie würde eine Vertragsänderung laufen?
Schon dafür wäre ein einstimmiger Beschluss aller (derzeit noch 28) EU-Länder nötig. Der Linzer Europarechtsprofessor Franz Leidenmühler sagt daher: „Das ist eine sehr hypothetische Diskussion.“Eine Änderung der EU-Verträge „ist derzeit völlig unrealistisch“. Selbst wenn sie gelinge, dauere eine Vertragsänderung auf EU-Ebene erfahrungsgemäß mindestens zwei Jahre. Nach Verhandlungen – im Rahmen einer sogenannten Regierungskonferenz – ist ebenfalls Einstimmigkeit im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, erforderlich. Danach ist die Ratifizierung in jedem EU-Staat nötig. In einigen Ländern, wie etwa Irland, sind dazu Volksabstimmungen zwingend vorgesehen. In Österreich hat den Vertrag von Lissabon das Parlament ratifiziert.
Der Innsbrucker Europarechtler Walter Obwexer widerspricht Leidenmühler: „Nach dem Brexit kann die Union nicht so weitermachen wie bisher. Daher ist es gut, wenn jetzt eine Diskussion über notwendige Reformen begonnen wird.“Obwexer glaubt, dass in Wahrheit alle EU-Länder einen Reformbedarf sehen. „Das muss reifen, aber man muss darüber reden.“
3. Nach dem Brexit ist vor der nächsten Reform?
Den Brexit müsse man nicht mehr abwarten für eine Reformdebatte, argumentiert Obwexer, denn die EU mache keine Nachverhandlungen mit London mehr und daher ändere sich an den drei Möglichkeiten (Austritt mit bzw. ohne Deal oder doch Verbleib) nichts. Obwexer begrüßt die Vorschläge von Kanzler Kurz, insbesondere die Verschärfung von Sanktionen im Hinblick auf den Bruch der Rechtsstaatlichkeit oder der Haushaltsvorgaben. Es sei auch nicht zu leugnen, dass beim Thema Asyl und Migration etwas passieren müsse. Dem pflichtet auch Stefan Griller, Europarechtsprofessor an der Universität Salzburg, bei: „Wir brauchen mutige Politiker. Vordringlich wären Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion.“Die Finanzkrise habe gezeigt, was zwischen 2008 und 2014 beim Troubleshooting an Änderungen „am Rande des Vertrags“möglich gewesen sei. „Man hat gesehen, was geht.“
4. Wird die EU-Kommission verkleinert?
Das sieht der Vertrag von Lissabon längst vor, nur umgesetzt ist es noch nicht. Denn vor dem zweiten Referendum in Irland 2009 sicherte der Europäische Rat den Iren zu, dass das Land weiter ein Mitglied der EU-Kommission stellen könne. 2014 wäre die erste Möglichkeit zur Änderung gewesen, aber es tat sich nichts. Der Europäische Rat muss seinen Beschluss vor der Bestellung der nächsten Kommission (mit November 2019) ohnehin überprüfen. Kathrin Stainer-Hämmerle, Politologin an der Fachhochschule Klagenfurt, findet Kurz’ Vorstoß grundsätzlich gut: „Es ist interessant, wenn man als Politiker seine Vision vom institutionellen Gefüge vorlegt.“Allerdings fehlten jegliche Details, um die Pläne besser beurteilen zu können. Gleichzeitig gibt Stainer-Hämmerle zu bedenken: „Ein Verzicht auf einen EU-Kommissar ist innenpolitisch schwierig zu argumentieren.“Der LissabonVertrag, Artikel 17, legt die Zahl der Kommissionsmitglieder mit zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedsstaaten fest (das wären derzeit 19 Kommissare, ohne Großbritannien 18).
5. Wie sind die Reaktionen in Österreich und Brüssel?
Am schärfsten hat, wie berichtet, der FPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahl, Harald Vilimsky, die Aussagen von Kanzler Kurz kritisiert. Vor allem warnte er vor „mehr Zentralismus“aus Brüssel. Allerdings gilt das nicht für die verkleinerte EU-Kommission, die Vilimsky auch selbst gefordert hatte. Ein Sprecher der EU-Kommission reagierte am Montag laut APA sehr zurückhaltend: Es sei Sache der EU-Staaten, über solche Dinge zu diskutieren. Die EU-Chefs haben dazu am Donnerstag bei einem informellen Gipfel in Sibiu (Rumänien) Gelegenheit, Entscheidungen fallen dort nicht.