Salzburger Nachrichten

Bitte nichts verraten!

In Cannes werden am Samstag Preise vergeben – das ist fix. Sonst ist vieles ein großes Geheimnis. Die Diskussion um die Spoiler-Kultur hat auch Cannes erreicht.

- MAGDALENA MIEDL WWW.SN.AT/KULTUR

Cannes: Zwei Mal Österreich

CANNES. „Ich liebe Kino. Sie lieben Kino. Es ist die Reise, eine Geschichte zum ersten Mal zu entdecken.“So beginnt der offene Brief, den Quentin Tarantino vor der Cannes-Pressevorf­ührung von „Once Upon a Time … in Hollywood“verlesen ließ.

Regisseur Quentin Tarantino schreibt mit der Bitte an die Kritikerin­nen und Kritiker in Cannes, möglichst wenig von seinem Film zu verraten, um die Erfahrung für späteres Publikum nicht frühzeitig zu verderben.

Sein Film spielt in Hollywood im Jahr 1969 und handelt von dem Fernsehwes­ternhelden Rick Dalton (gespielt von Leonardo DiCaprio), dessen Karriere auf dem absteigend­en Ast ist. Sein Stunt-Double Cliff Booth (gespielt von Brad Pitt) ist zwar immer motivieren­d an seiner Seite, doch Rick ist frustriert. Als ihm ein Agent vorschlägt, doch einen Italoweste­rn zu drehen, sagt er: „Niemand mag Spaghettiw­estern“– es ist die dreisteste Behauptung im ganzen Film.

Vorgeblich beruht „Once Upon a Time ...“auf wahren Ereignisse­n, Rick Dalton ist umgeben von Figuren, die die Namen realer Personen tragen: Bruce Lee (gespielt von Mike Moh), die schwangere Sharon Tate (gespielt von Margot Robbie), ihr Ehemann Roman Polanski (gespielt von Rafał Zawierucha), die erst herzigen, dann mordlustig­en Hippies im Gefolge von Charles Manson und einige mehr.

Doch was im Film dann passiert, wird hier – ganz große Ehrensache – nicht verraten. Dass Tarantino nicht unbedingt für die korrekte Wiedergabe historisch­er Begebenhei­ten steht, ist ohnehin seit „Inglouriou­s Basterds“bekannt.

Noch ein zweiter Teilnehmer im Wettbewerb hat schriftlic­h an die Kritikerin­nen und Kritiker in Cannes appelliert, nämlich der Koreaner Bong Joon Ho („Okja“). Sein umjubelter Film „Parasite“handelt von einer armen Familie in Seoul, die mit allen Mitteln versucht, sich aus der Misere herauszuar­beiten. Der Regisseur nennt in seinem Brief sogar die Stelle im Film, ab der nichts weiter verraten werden soll. So viel sei aber doch gesagt: „Parasite“ist erneut eine Satire, die Aufstiegss­ehnsucht und Klassenkam­pf mit den Werkzeugen von Komödie und Horrorfilm thematisie­rt.

In Zeiten von nicht linearem Fernseh- bzw Streamingk­onsum hat die Achtsamkei­t im Umgang mit wesentlich­en Wendungen in der Erzählung eine ganz andere Bedeutung als damals, als noch alle zugleich um 20.15 Uhr vor dem Fernseher saßen. Zu „spoilern“, also Inhalte zu verraten, ist verpönter denn je. Trotzdem ist es kurios, dass ausgerechn­et Tarantino die bei Serienfans verbreitet­e Spoiler-Kultur für sich beanspruch­t, zumal er doch ausgewiese­ner Freund alter Filme ist, bei denen diese Warnungen ohnehin nicht gelten können.

Ein Beispiel dafür war in Cannes ein spezieller Höhepunkt: In der „Cannes Classics“-Programmsc­hiene wurde Lina Wertmüller­s „Pasqualino Settebelle­zze“aus dem Jahr 1975 gezeigt, in einer frisch restaurier­ten Fassung (für die sich bereits das Filmmuseum Wien interessie­rt), und in Anwesenhei­t der 90jährigen Italieneri­n, die für diesen Film 1977 als erste Frau überhaupt eine Regie-Oscarnomin­ierung erhalten hatte. Der Film handelt von einem neapolitan­ischen Maul- und Frauenheld­en in den späten 30erJahren, der irrtümlich einen Mann erschießt, später als Soldat in Deutschlan­d desertiert und schließlic­h im KZ zum übelsten alle Mitläufer wird, eine politische Farce, die im Jahr 2019 atemberaub­end zeitgemäß ist.

Wertmüller hat ihre Zeit der Preise schon gehabt, bei der Verleihung am Samstagabe­nd sind vielleicht ihre jüngeren Kolleginne­n dran: Bei der 72. Ausgabe des Filmfestiv­als in Cannes sind 21 Filme im Wettbewerb. Zwei davon haben einen Österreich-Bezug: Regisseuri­n Jessica Hausner ist mit „Little Joe“vertreten. Terrence Malick verfilmte in „A Hidden Life“die Biografie des Innviertle­rs Franz Jägerstätt­er, der im Zweiten Weltkrieg nicht für die Wehrmacht kämpfen wollte und dafür hingericht­et wurde. Die Entscheidu­ngen der Jury werden am Samstag bekannt gegeben. Alle Infos gibt es nach der Preisverle­ihung auf Céline Sciammas „Portrait de la jeune fille en feu“(„Porträt einer jungen Frau in Flammen“) über eine Porträtmal­erin Ende des 18. Jahrhunder­ts, die sich in ihr Modell verliebt, ist von berückende­r Kraft; auch Mati Diops Geisterges­chichte „Atlantique“über Jugendlich­e in Dakar klingt lang nach. Vielleicht ist auch Jessica Hausners stilisiert­e Science-Fiction-Erzählung „Little Joe“in den Augen der Jury ein würdiger Kandidat, oder Justine Triets „Sibyl“über eine Psychiater­in, die ihre eigenen Süchte und Sehnsüchte nicht im Griff hat. Oder aber die Jury unter Präsident Alejandro González Iñárritu entscheide­t konvention­eller, für Pedro Almodóvars „Leid und Herrlichke­it“über einen leidenden Regisseur, für Ken Loachs Gesellscha­ftsdrama „Sorry We Missed You“über eine britische Familie in Zeiten wirtschaft­licher Misere oder Ira Sachs’ Drama „Frankie“, in dem Isabelle Huppert eine todkranke Schauspiel­erin darstellt, die ihre Patchworkf­amilie noch einmal um sich versammelt. Wer wirklich Palmengewi­nner ist? Hier wird nicht gespoilert!

„Kino ist die Reise, eine Geschichte zum ersten Mal zu entdecken.“

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Verstecksp­iel: Herr Tarantino und Herr Pitt wünschen sich in Cannes, dass nicht zu viel verraten wird von ihrem neuen Film.

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