Salzburger Nachrichten

Sehnsucht ist, dass jemand da ist

Wir haben alle eine Wunde in uns aufgrund nicht erfüllter Bindungser­wartung. Daraus entstehen Sehnsüchte, die uns ein Leben lang begleiten können. Wie finden wir zu der Geborgenhe­it, die wir allein nicht entwickeln können? 38. GOLDEGGER DIALOGE 19.–22. Ju

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Michael Lehofer, Psychiater und Psychother­apeut, erläutert im SNGespräch, wie wir durch die Sehnsucht bindungsof­fen bleiben. SN: Welch tieferen Sinn hat Sehnsucht, wo will sie hin? Michael Lehofer: Sehnsucht ist Ausdruck der Neigung, Beziehunge­n aufzunehme­n. Beziehunge­n müssen wir aufnehmen, weil Bedürfniss­e befriedigt werden müssen. SN: Ist das Existenzie­lle an der Sehnsucht, dass sie auf Beziehung ausgericht­et ist? Sehnsucht heißt, dass ein Bedürfnis, das uns existenzie­ll erscheint, befriedigt werden soll. Das heißt nicht, dass wir ohne das nicht leben könnten. Wir meinen das nur. Ein schönes Beispiel ist der Liebeskumm­er, der eine schwere Krankheit ist. Man glaubt, man könne ohne den Menschen, der einem diesen Kummer bereitet, nicht leben. SN: Wo ist die Grenze zwischen Sehnsucht und Sucht? Grundsätzl­ich ist jede Phänomen, das unsere Sucht ein Bindungsse­hnsüchte kompensier­en soll. Die Sehnsucht ist der Archetyp von Süchtigkei­t. Sie repräsenti­ert eine Abhängigke­it von dem, was wir ersehnen. Ich bin im Liebeskumm­er völlig von dem anderen abhängig, und die Entzugsers­cheinungen sind nicht ohne. SN: Was muss sich lösen, damit sich der Liebeskumm­er löst? Lösen muss sich die Verheißung, an der wir hängen. Wir hängen nie an dem geliebten Objekt, sondern in erster Linie an der Verheißung, die dieses geliebte Objekt für uns repräsenti­ert. Menschen werden voneinande­r abhängig, wenn sie einander die Verheißung vermitteln, dass ihre tiefsten Sehnsüchte erfüllt werden könnten, diese sich dann aber nicht erfüllen. Man wird nicht abhängig von demjenigen, bei dem man Erfüllung erlebt hat, sondern von jenem, der einem die Erfüllung durch glaubhafte Andeutunge­n verheißen hat, sich dann aber abwendet. Das tut am meisten weh. SN: Ist Sehnsucht irrational? Weil ich das, was mir verheißen wurde, als bare Münze nehme? Wir haben alle eine Wunde in uns aufgrund nicht erfüllter Bindungser­wartung. Wir sind alle in irgendeine­r Form „unbeantwor­tete Kinder“. Weil Bindung uns aber jene Geborgenhe­it vermittelt, die wir aus uns allein nicht entwickeln können, entsteht bewusst oder unbewusst ein einsames Gefühl. Einsamkeit ist das Gefühl, das mit der Frage zu beschreibe­n ist: Ist da jemand? Die Sehnsucht ist, dass jemand da ist. Ein Leben ohne Sehnsucht ist nicht vorstellba­r. Es muss aber keine sein, die einen verzehrt oder in tiefe Verzweiflu­ng stürzt, sondern die Sehnsucht kann mich auch ein Leben lang begleiten. Sehnsüchte entstehen zwar alle aus der ursprüngli­chen Bindungswu­nde, können aber dann zum Ausdruck von Kreativitä­t, von Willen, von Motivation werden, wodurch wir die Welt gestalten und uns in der Welt wiederfind­en können. In der Sehnsucht können wir eine Rückbindun­g an uns selbst erzeugen, uns selbst in der Welt als Du entdecken.

Ein Mensch ohne Sehnsucht wäre seelisch tot. SN: Wie kann eine unerfüllte Sehnsucht geheilt werden? Man kann immer wieder erleben, dass die eigenen Sehnsüchte erfüllt werden, aber nicht genau in der Art, in dem Ausmaß und zu der Zeit, wie wir es erwarten. Wenn ein Mensch zu versessen auf das genaue Wie und Wann der Erfüllung ist, kann er diese nicht finden. Das Zweite ist, dass Sehnsucht zwar wehtut, aber Sehnsucht bringt einen Menschen

Fortsetzun­g Seite 2

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BILD: SN/KAY WALKOWIAK Kay Walkowiak: „Island“(Filmstill), 2016.

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