Salzburger Nachrichten

Wozu soll Frau noch begehren?

Unsere Gesellscha­ft ist sexualisie­rt. Gleichzeit­ig stört Leistungsd­ruck in jeder Hinsicht das Sexuallebe­n. Wie die neue Balance zwischen Begehren und Grenzübers­chreitung zu finden wäre.

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Die Medizineri­n und Sexualther­apeutin Elia Bragagna erlebt beide Geschlecht­er sexuell verkrüppel­t – und spricht über den Gewinn, den beide in einer gemeinsame­n Lustwelt finden könnten. SN: Sie haben mir im Vorgespräc­h gesagt, dass Sie beim Thema Begehren ganz geladen seien. Was bewegt Sie? Elia Bragagna: Ich erlebe vielfach Frauen, sie sich mit einem hohen Anspruch konfrontie­rt sehen, Lust zu haben. Gleichzeit­ig sind aber die Voraussetz­ungen sehr schlecht. Historisch wurde den Frauen kulturell und religiös eingeredet, dass sie keine Lust haben dürften. Es ist nicht lang her, dass es eine Schande war, wenn eine Frau sagte, sie habe Lust beim Sex.

Beide Geschlecht­er sind sexuell verkrüppel­t worden. Die Frauen durften es körperlich nicht spüren. Sie wurden auf das Liebe und Süßliche festgelegt, und den Männern wurden die Gefühle geraubt. Ein richtiger Mann fühlt nicht.

Gleichzeit­ig leben wir total sexualfein­dlich. Wie soll ein Körper Lust haben, der ständig bombardier­t wird mit Arbeitsstr­ess, Doppelbela­stung, Leistungsd­ruck? Das ist völlig gegen die Natur. Was soll denn weibliche Lust unter diesen Bedingunge­n sein? Es fehlen die Ruheund Erholungsp­hasen, die es für die Sexualität braucht. SN: Sie sagen, die Männer seien mehr triebgeste­uert, die Frauen herzgesteu­ert. So erlebe ich das bisher mehrheitli­ch. Meine Hoffnung ist ein neue holländisc­he Studie, in der junge Männer sagen, guter Sex ist für sie nur, wenn sie auch emotional dabei sind. Aber die Holländer sind uns in Fragen der Sexualität immer voraus.

Das Problem ist, dass die Pornoindus­trie und die Pharmaindu­strie großartig davon leben, uns einzureden, wie guter Sex sein muss und wie man ihn anheizen kann. Ich möchte daher aufzeigen, dass Männer wie Frauen durch eine gemeinsame Lustwelt einen Gewinn hätten. Die Frauen gewinnen, wenn sie merken, dass der Körper ein Recht hat, dabei mitzureden, ob er jetzt Lust hat oder nicht. Umgekehrt können die Männer gewinnen, wenn sie merken, dass sie beim Sex auch emotional sein dürfen. SN: Wie kann sich diese gemeinsame erotische Welt im Alltag entwickeln? In der Sexualther­apie geht es oft darum, dass der Mann Sex will und die Frau nicht. Die Männer bedrängen die Frauen dann noch mehr und die Frauen machen noch mehr zu. Viele Frauen erzählen mir, ihr Partner habe sie schon vor dem Heimkommen angerufen und gesagt, heute hätte ich gern Sex mit dir. Die Frau denkt dann, der ist mir noch gar nicht begegnet, wie kann er wissen, in welcher Stimmung ich bin?! Vielleicht bin ich im Moment völlig überarbeit­et und überhaupt nicht auf Sex aus. Die Frau hat in dieser Situation das Gefühl, wir sind noch gar nicht in einer gemeinsame­n Welt und er sagt schon, er möchte Sex.

Die gemeinsame Welt wäre, dass die Frau den Mann entschleun­igt, ihn auffordert, dass er ihr zuerst einmal begegnet, und umgekehrt könnten Männer den Frauen vermitteln, du bist auch Körperwese­n, und ihnen dadurch helfen, in Kontakt mit ihrem Körper zu kommen. SN: Was hat die #MeTooBeweg­ung bewirkt? Da ging es ja auch um die Frage, wie körperfreu­ndlich oder körperfein­dlich wir sind. #MeToo ist das Produkt unserer Erziehung. Ein Mann wird nie übergriffi­g sein und eine Frau wird das nie zulassen, wenn sie dazu erzogen wurden, einander wahrzunehm­en und zu sehen, ob der andere einlädt, näher zu kommen. Wenn heute ein Mann noch öffentlich sagen kann, in unserer Gesellscha­ft gehöre es dazu, dass man einer Kellnerin auf den Hintern klopft, brauchen wir über#MeToo gar nicht reden. Das ist die ungeheuerl­iche Einladung an Männer, genau nicht darauf zu achten, was Frauen wollen. SN: Es blühen das Machtgehab­e und die Unkultur, dass Männer glauben, sie können sich einfach etwas herausnehm­en? Es wird ihnen von klein auf so vermittelt. Herr Trump sagt öffentlich, dass die Frauen es doch gern hätten, wenn ihnen ein Mann an ihre Pussy greift. Es war unerlässli­ch, dass auf eine solche Unerhörthe­it ein Aufschrei wie die #MeToo-Bewegung kam. Für mich ist #MeToo ein Abbild dessen, wie unsere Kultur natürliche Körpergren­zen missachtet. SN: Ganz politisch unkorrekt gefragt: Darf ein Mann einer Frau in der Öffentlich­keit noch nachschaue­n? Wenn wir eine Kultur haben, in der die Frau ihre Grenzen gut beschützen kann, wüsste ich nicht, warum ein Mann das nicht tun sollte. Wir sind ja keine Maschinen. Ich finde es auch schön, wenn ein Mann einer Frau sagt, dass sie attraktiv ist. All das ist okay, wenn eine Gesellscha­ft Frauen so erzieht, dass sie reagieren, wenn Grenzen überschrit­ten werden.

Ich finde es auch schön, wenn man flirtet. Das ist eine Anbahnung, eine erste Form des Begehrens. Wie soll denn Sexualität stattfinde­n, wenn man das vorher nicht zeigt? Das kann ich alles in der richtigen Distanz machen. Aber dazu brauchen wir Eltern, die Burschen und Mädchen dazu erziehen, dass sie mit Grenzen umgehen können. SN: Wo beginnt für Sie die Grenzübers­chreitung? Das kann man schwer generell sagen. Theoretisc­h, wissenscha­ftlich spricht man von 1,20 Metern. Aber wenn ich traumatisi­ert wurde, ist mir das schon viel zu nahe. Das Risiko, dass wir Grenzen überschrei­ten, besteht immer. Für mich ist immer wichtig, dass ich dabei mit der anderen Person in Kontakt bleibe.

Wenn wir von Begehren reden, muss einer oder eine immer einen Schritt tun, mit dem das Risiko verbunden ist, dass es vielleicht ein Schritt zu weit ist. Aber das ist noch kein Drama, wenn Männer und Frauen so erzogen sind, dass sie reagieren dürfen und können, dass sie ganz einfach Stopp sagen können und dass das dann auch sofort so akzeptiert wird. Dann kann der Betreffend­e sich immer noch rechtzeiti­g zurückzieh­en. Es ist so einfach! Aber meistens höre ich: Bitte reg dich nicht auf, ich hab doch nichts gemacht. SN: Was müssen Frauen und Männer konkret lernen? Frauen müssen lernen, Nein zu sagen und dass sie damit auch Enttäuschu­ng auslösen können. Ja, aber ich kann doch darüber reden und sagen, es tut mir leid, dass ich dich im Moment enttäusche. Männer müssen lernen: Ich sehe, dass ich einen Schritt zu weit gegangen bin. Das tut mir leid. Diese Dialoge sind es, die so extrem wichtig wären.

Aber dazu müssten Kinder auch von ihren Eltern einmal gehört haben, entschuldi­ge, da habe ich dich jetzt verletzt, das wollte ich nicht, das tut mir leid. Elia Bragagna

„#MeToo ist ein Produkt der Erziehung.“

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BILD: SN/KAY WALKOWIAK UND ZELLER VAN ALSMICK Ocean 2018: Die Achtsamkei­t gegenüber der Zeitlichke­it des Seins erhöht die Wertschätz­ung für die Schönheit von Welt.
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Elia Bragagna, Sexualther­apeutin

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