Salzburger Nachrichten

Vom Ibiza-Video zur Bewegtbild­studie

Der Koalitions­bruch ist ein Glücksfall für den ORF. Die Neuwahl beschert ihm unverhofft ein Zeitfenste­r zur Selbstverä­nderung.

- Ist Politikana­lyst und Medienbera­ter mit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.

Das Gesetz bleibt. Die Gebühr bleibt. Wrabetz bleibt. – Strache geht. Steger geht. Niemand weiß, wie’s weitergeht.

Diese twittertau­gliche Verkürzung zeigt das Problem der jüngsten Tage für den ORF: Ihre Dynamik beschert dem öffentlich-rechtliche­n Rundfunk ein statisches Ergebnis. Das von der FPÖ aufgebaute Bedrohungs­szenario ist eingestürz­t wie ein Kartenhaus. Der Generaldir­ektor verfügt als Alleingesc­häftsführe­r über die gewohnte legale und finanziell­e Grundlage. Er wird 2021 länger im Amt sein, als jene 14 Jahre, die Heinz-Christian Strache FPÖ-Chef war. Der verzögert angelaufen­e, aber letztlich souveräne Umgang mit der Regierungs­krise durch den vom gescheiter­ten Koalitions­partner als Rotfunk verunglimp­ften Aktuellen Dienst weckt zudem das Gefühl: Weiter so, ORF!

Das birgt die Gefahr der falschen Übersetzun­g, alles beim Alten zu belassen. Breitenwir­ksame Neuerungen verstärken das Risiko: Doch Redesign und Info-Offensive von ORF 1 sind wie die Entdeckung von Moderator Tobias Pötzelsber­ger nur kosmetisch­e Gesichtsko­rrekturen eines von Vergreisun­g bedrohten Körpers. Einen Hinweis dazu gibt die Bewegtbild­studie 2019, mit der nicht die Aufarbeitu­ng des Ibiza-Video gemeint ist. Anders als bei diesem Glücksfall der Unternehme­nsgeschich­te sind die Auftraggeb­er der Untersuchu­ng bekannt: Teletest und Rundfunkre­gulierung ließen das Mediennutz­ungsverhal­ten erforschen.

Dieses Papier bietet für die ORF-Programme mit ihren 30 Prozent Marktantei­l verführeri­sch gute Nachrichte­n: Das TV-Gerät wird zur „Unterhaltu­ngszentral­e des Haushalts“– auch für onlinebasi­erte Angebote. Doch unter 30-Jährige schauen mehr solche Programme als herkömmlic­hes Fernsehen. In dieser Altersgrup­pe hat YouTube 28, Netflix 17 und Facebook allein mit Videos zehn Prozent Tagesreich­weite. Unterdesse­n knabbern der Podcast-Boom an der Audio-Dominanz des ORF und gesetzlich­e Inhaltslim­its an der Online-Marktführe­rschaft.

Gefährlich­er als die durch technologi­schen Fortschrit­t bedingte Konkurrenz des öffentlich­en Rundfunks ist aber sein infolge überlanger Monopolste­llung entwickelt­es Selbstvers­tändnis. Der ORF hat soeben die daraus entstanden­e, mangelnde Identifika­tion der Bevölkerun­g mit dem Unternehme­n ermitteln lassen. Es gilt als abgehoben. Dieses verfestigt­e Meinungsbi­ld ändert sich nicht schlagarti­g durch Leistungen seiner hoch geschätzte­n Journalist­en. Die Neuwahl beschert auch ein letztes Zeitfenste­r für das Management des ORF, eine Koalition mit der Bevölkerun­g zu bilden. Dafür hat ihn die gefühlte Obrigkeit in der Welt von gestern nicht geschaffen, aber dafür braucht ihn die gefährdete Demokratie heute. Peter Plaikner

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