Salzburger Nachrichten

Kosmetik von der „Kolchose“

Der Kibbuz, der wieder die Welt verändern will. Im Kibbuz Hatzerim wurde die Tröpfchenb­ewässerung erfunden. Das brachte Israels Wüste zum Blühen. Jetzt setzt der reichste Kibbuz Israels auf Jojobaöl – das soll die Kosmetikin­dustrie revolution­ieren.

- GIL YARON

Das Verkehrssc­hild macht klar, dass man sich mitten in der Wüste befindet. „Vorsicht, Kamele überqueren die Straße“, bedeutet das Dreieck mit der roten Umrandung und dem schwarzen, höckerigen Vierbeiner auf weißem Hintergrun­d. Nur wenige Kilometer westlich der Stadt Beerschewa zeigt Israel sich als karges Land: steinige Hügel, über denen schon im April die Luft manchmal vor Hitze flimmert. Nur hin und wieder bilden kleine Gruppen von Akazien grüne Flecken im unendliche­n Beige. Bis man sich dem Kibbuz Hatzerim nähert. Plötzlich sprießen Pflanzen am Straßenran­d, stehen mannshohe, saftig grüne Sträucher bis zum Horizont Spalier. Jonathan Regev blickt auf das grüne Meer mitten im Negev und sagt: „Das ist für mich Zionismus: die Wüste zum Blühen bringen.“Für den Verkaufsle­iter von Jojoba Desert, eines Start-ups von Israels reichstem Kibbuz, geht es um mehr als den Traum von Israels Gründervät­ern: Die Jojobasträ­ucher rund um Hatzerim könnten eine der letzten sozialisti­schen Hochburgen des Landes bald noch reicher machen.

Hatzerim ist eine israelisch­e Erfolgsges­chichte. Einerseits halten die rund 800 Kibbuz-Mitglieder an den Idealen ihres sozialisti­schen Kollektivs fest. Andere Kibbuzim sind fast vollkommen privatisie­rt, doch in Hatzerim wird immer noch die Wäsche in einer Gemeinscha­ftswaschkü­che gewaschen, nehmen Mitglieder ihre Mahlzeiten im Speisesaal ein, bestimmt das Kollektiv und übernimmt zugleich Verantwort­ung für alle Mitglieder. Warum ist Hatzerim so anders? Weil der Kibbuz es sich leisten kann.

Die kibbuzeige­ne Firma Netafim, die in 110 Ländern Rohre für Tröpfchenb­ewässerung verkauft, gehört zu den 30 erfolgreic­hsten Unternehme­n Israels. Nachdem die Kibbuzniks die Landwirtsc­haft in aller Welt revolution­ierten, wollen sie mithilfe der Jojobasträ­ucher die Kosmetikin­dustrie verändern und den Kibbuz noch reicher machen. Dabei waren die Anfänge bescheiden. Hatzerim entstand in einer Geheimakti­on in der Nacht nach Jom Kippur 1946. Lastwagenk­onvois rumpelten in die NegevWüste. An Bord saßen zionistisc­he Pioniere, die hier elf neue Dörfer gründen sollten. Ihre Absicht: Die britischen Herrscher davon zu überzeugen, bei einer Teilung des Mandatsgeb­iets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat den Negev dem zukünftige­n Israel zuzuschlag­en. So wurde Hatzerim von einem Teil der sogenannte­n Teheran-Kinder gegründet, 719 jüdische Kinder aus Polen, darunter viele Vollwaisen, die 1939 vor dem Überfall der Nazis geflohen waren. Sie waren 1943 über Umwege, unter anderem den Iran, nach Palästina gelangt und gehörten zur Speerspitz­e der zionistisc­hen Bewegung.

Doch zuerst hieß es Krisen überwinden. Während des Unabhängig­keitskrieg­es 1948 wurde der Kibbuz wochenlang von ägyptische­n Truppen belagert. Die Landwirtsc­haft scheiterte, weil die Erde in der Wüste zu viel Salz enthielt. „Wir fuhren Monat für Monat Defizite ein“, erinnert sich Aharon Jadlin, einer der Gründer. Bis 1965 der Wandel kam. Simcha Blass, einer der bekanntest­en Wasseringe­nieure des Landes, hatte in Tel Aviv eine eigenartig­e Beobachtun­g gemacht. „In der Dubnov-Straße war ein Baum viel größer als alle anderen“, erzählt Dani Retter (76), bei Netafim von Anfang an als Ingenieur mit dabei. Der neugierige Blass entdeckte ein kleines Loch in einem Wasserrohr direkt neben dem Baum. So wurde die Idee der Tröpfchenb­ewässerung geboren. Doch zunächst wollte niemand etwas davon hören, bis Hatzerim sich vor lauter Verzweiflu­ng der Idee annahm und mit Blass die Firma Netafim gründete. Die beschäftig­t heute rund 5000 Angestellt­e in 17 Fabriken in 14 Ländern, mit einem jährlichen Umsatz von rund 900 Millionen USDollar. Im Jahr 2017 kaufte die Firma Mexichem 80 Prozent von Netafim für 1,9 Milliarden Dollar. Seither ist jedes Mitglied des sozialisti­schen Kibbuz offiziell Millionär.

Das israelisch­e Patent hat weltweit die Landwirtsc­haft revolution­iert. „Bei Berieselun­gsanlagen verdunsten rund 30 Prozent des Wassers. Bei Tröpfchenb­ewässerung geht nichts verloren“, erklärt Retter. So muss die Pflanze auch keine Energie verschwend­en und Wurzeln wachsen lassen, die nach Wasser suchen. Das steigert die Erträge um das Sechsfache, bei viel weniger Wasserverb­rauch. Zudem müssen weniger Pestizide eingesetzt werden, da zwischen den Nutzpflanz­en kaum Unkraut wächst.

Hatzerim nutzt sein Know-how für die nächste Revolution, diesmal in der Kosmetikin­dustrie, die laut Schätzunge­n weltweit jährlich Umsätze von 133 Milliarden USDollar macht. Dafür soll der Kibbuz endlich wieder Landwirtsc­haft betreiben, wie die Gründer wollten, nur mit einer Pflanze, die diese gar nicht kannten: Jojoba. Die Jojobabohn­e hat außergewöh­nliche Eigenschaf­ten. Ihre antibakter­ielle Wirkung war schon vor Jahrhunder­ten den Indianern bekannt, die Wunden und Hautleiden mit Jojoba behandelte­n. Eine Legende besagt, die ersten europäisch­en Siedler hätten die schöne Haut der amerikanis­chen Ureinwohne­r bewundert. Als sie sie nach ihrem Geheimnis fragten, sprachen die von „flüssigem Gold“, das sie auf ihre Haut rieben: Jojobaöl, das genau genommen eigentlich ein Wachs ist.

Der Rohstoff hat auch anderen Nutzen: Während des Zweiten Weltkriegs machten sich die USA seinen hohen Siedepunkt als Zusatz zu Motoröl oder als Schmieröl für Maschineng­ewehre zunutze. Die Nahrungsmi­ttelindust­rie könnte es als schlankmac­henden Ölersatz verwenden. Jojoba wird nicht absorbiert, hat deswegen keine verwertbar­en Kalorien. Es kann helfen, Medikament­e zu verabreich­en. Die Kosmetikin­dustrie entdeckte das Öl in den 1970er-Jahren wieder, nachdem die USA ein Importverb­ot für Walöl verhängten. Jojoba erwies sich als dem Pottwalöl überlegen, weil seine chemischen Bestandtei­le dem Sebum der menschlich­en Haut verblüffen­d ähneln. In den 1980er-Jahren wurde die Pflanze so zum heißen Investorti­pp. Tausende Hektar wurden in den USA bepflanzt. „Jeder Zahnarzt in New York steckte seine Gewinne in Jojobaplan­tagen“, sagt Jadlin. Auch der israelisch­e Ölkonzern Delek setzte auf Jojoba und brachte Setzlinge ins Land. Doch alle wurden enttäuscht. Die Ernten waren kümmerlich, Jojoba ein Verlustges­chäft.

Männer wie Jonathan Regev in Hatzerim waren überzeugt, dass sie dank ihrer Expertise Erfolg haben würden, wo andere scheiterte­n. Der Kibbuz kaufte von Delek die Jojobapres­sen und -plantagen für einen Schekel und begann zu forschen. Das Resultat ist heute auf rund 1900 Hektar um den Kibbuz sichtbar. „Früher erntete man etwa 600 kg pro Hektar. Dank Tröpfchenb­ewässerung und richtigem Anbau bringen wir es heute auf 7000 kg“, sagt Regev stolz. Mit ihren Technologi­en gewinnen die Kibbuzniks aus jedem Kilogramm Ernte zudem doppelt so viel Öl wie ihre Konkurrenz. So befinden sich in Israel bisher zwar nur 15 Prozent der Jojobaanba­uflächen der Welt, dennoch kommt etwa ein Drittel der weltweiten Produktion von 5000 Tonnen pro Jahr von hier.

„Große Konzerne nutzten Jojoba bisher aus zwei Gründen nicht: Es ist mindestens zwei Mal teurer als Olivenöl, und sie konnten sich nie auf die Versorgung verlassen, weil die Ernten so unterschie­dlich ausfielen“, sagt Regev. Das Klima im Negev sei aber sehr stabil. „Deshalb gibt es fast keine Schwankung­en in den Erträgen.“Zum ersten Mal seit Jojoba industriel­l genutzt wird, könnten Hersteller mit konstanten Preisen und stetem Nachschub rechnen.

Mit 100 Millionen US-Dollar ist der globale Markt für Jojoba noch bescheiden. Das könnte sich bald ändern. Denn die Kosmetikin­dustrie entdeckt das flüssige Indianergo­ld wieder für sich. Immer mehr Konzerne, auch in Deutschlan­d, lassen das Öl in ihre Produkte fließen. „Man kann auf Tierversuc­he verzichten, Cremes werden besser von der Haut aufgenomme­n. Die Haltbarkei­t wird deutlich länger, weil Jojobaöl nicht ranzig wird“, zählt Regev die Vorteile des Naturprodu­kts auf. Daher rechnen Experten mit hohem Wachstum. In Erwartung dieser Entwicklun­g wachsen die Anbaufläch­en für Jojobasträ­ucher rund um Hatzerim um zehn bis 20 Prozent pro Jahr. Ende des nächsten Jahrzehnts könnte der Kibbuz der Millionäre mit Jojoba Milliarden verdienen und so das Überleben eines der letzten sozialisti­schen Paradiese Israels sicherstel­len.

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Das Öl aus der Jojobapfla­nze habe enormes Potenzial, glaubt man in Israel.
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BILDER: SN/STOCKADOBE-KHALAZIY, YARON Dani Retter vor einem Bild, das ihn beim Bau der Anlage zur Tröpfchenb­ewässerung zeigt.

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