Schlagstöcke knüppeln die noch frische Hoffnung nieder
Der zivile Widerstand in Russland keimt auf. Und wird umgehend wieder unterdrückt. Eine politische Analyse.
MOSKAU. Die Polizisten packen die Männer an Armen und Beinen, schleppen sie in die Einsatzwagen der Moskauer Spezialpolizei, nehmen so mehr als 400 Demonstranten fest, darunter den russische Oppositionsführer Alexej Nawalny. Es sind Szenen, wie sie sich häufig abspielen bei nicht genehmigten Demonstrationen in Russland, Szenen, wie sie auch am Mittwoch, dem Nationalfeiertag, wieder für entsetzte Gesichter sorgten.
Keine 24 Stunden zuvor hatten viele, die in diesem Moment hinter vergitterten Fenstern sitzen, noch gejubelt. Es war die ehrliche, laute Freude darüber, was sie noch am Tag zuvor für unmöglich gehalten hätten. Ihr ziviler Ungehorsam hatte das russische Innenministerium dazu gebracht, den in der vergangenen Woche wegen angeblicher Drogendelikte festgenommenen und zu Hausarrest verurteilten Investigativreporter Iwan Golunow wieder freizulassen. Tagelang hatten Golunows Unterstützer für dessen Rechte gekämpft. Die Bemühungen zeigten Wirkung, das Verfahren gegen den 36-Jährigen wurde eingestellt. Ein historischer Sieg, der einen Trend symbolisiert hin zu einem zurückkehrenden Widerstand.
Geht es um konkrete Belange, sind viele Russen bereit, für sie einzustehen, ohne das gesamte politische System infrage zu stellen. Das zeigte sich kürzlich bei den Protesten um den Bau einer Kathedrale in Jekaterinburg am Ural, zeigte sich ebenfalls auf dem Gelände einer neuen Mülldeponie in der Region Archangelsk im Norden Russlands. Hier wie dort schaltete sich nach tagelangem Ausharren der Menschen der russische Präsident Wladimir Putin ein und sprach ein Machtwort, befahl den Dialog. Hier wie dort ist der Bau der umstrittenen Objekte vorerst gestoppt.
Es sind Erfolge, die Russlands Zivilgesellschaft wiederbeleben. Nach den Massenprotesten 2011 und 2012 und den darauf folgenden Repressionen samt hohen Haftstrafen für Regierungsgegner hatten sich viele ins Private zurückgezogen. Doch die Unzufriedenheit blieb, nahm zuletzt zu. Sie wuchs mit jeder Reform, die das tägliche Leben erschwerte: sei es das erhöhte Pensionsantrittsalter oder die erhöhte Mehrwertsteuer. Die Einkommen vieler Russen stagnieren seit fünf Jahren. Der Unmut der Menschen zeigte sich auch in den immer weiter sinkenden Zustimmungswerten für den Präsidenten.
Hatten sie nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim noch bei mehr als 80 Prozent gelegen, vertrauen jüngsten Umfragen zufolge lediglich 31 Prozent Putin. Werte, die der Kreml nicht gern vernimmt.
Es zeigt sich: Die Staatsmacht, die im Fall Golunow den Menschen ein Zeichen der Hoffnung gab, schränkt die Freiheit sogleich wieder mit Schlagstöcken ein. Immerhin: Kremlkritiker Alexej Nawalny wurde am Abend wieder freigelassen.