Hinter den Kulissen von Amazon
Ein Mitarbeiter enthüllt Missstände beim Onlineriesen, jetzt wird die Gewerkschaft aktiv.
WIEN. Maarten N. ist gebürtiger Niederländer, Mitte 30, lebt in Österreich und hat Kinder. Als gelernter Hochseekapitän ist er an instabile Verhältnisse gewöhnt. Aber was er jetzt in seiner neuen Arbeit bei Amazon erlebt – nach einem Unfall musste er die Seefahrt aufgeben –, hat jetzt auch den abgebrühten Seemann ins Schlingern gebracht. „Die Leute fühlen sich unter Druck gesetzt, es gibt Stress und Kündigungen. Und man weiß am Anfang der Woche nicht, ob man am Ende der Woche noch einen Job hat“, erzählt Maarten N. am Mittwoch in Wien.
Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Gewerkschaft der Privatangestellten GPA-djp spricht von „unwürdigen Arbeitsbedingungen“durch Überwachung, Disziplinierungsmaßnahmen und erniedrigende Vorschriften, die durch die Aussagen des Whistleblowers erstmals über Amazon in Österreich bekannt geworden seien.
Der Bericht bestätige Informationen von Gewerkschaften aus den USA und Großbritannien, sagt GPA-djp-Bundesvorsitzende Barbara Teiber. Sie kündigt Maßnahmen gegen unwürdige Arbeitsbedingungen bei Amazon an. „Wir werden nicht zulassen, dass Menschen wie seelen- und würdelose Maschinen behandelt werden.“
Maarten N., der seit November über eine Leiharbeitsfirma am Amazon-Standort Großebersdorf (Bezirk Mistelbach, NÖ) beschäftigt ist, berichtet von akribischer Überwachung durch am ganzen Gelände eingebaute Kameras und vor allem durch Scanner, die punktgenau Arbeitszeit und -leistung messen. Wer das vorgeschriebene Plansoll nicht erfüllt, muss damit rechnen, nicht weiter beschäftigt zu werden.
Als erniedrigend empfänden Mitarbeiter die Vorschrift, keine persönlichen Gegenstände bei sich zu tragen, das betrifft Uhr und Handy ebenso wie Gürtel oder Kaugummi. Andernfalls stehe man im Verdacht, die Gegenstände aus Paketen entwendet zu haben.
Der Whistleblower berichtet von „Disziplinierungsmaßnahmen“bei Verstößen gegen Vorschriften, etwa durch unsicheres Schuhwerk: In so einem Fall müssten die Beschäftigten mühsam jedes Paket einzeln statt gruppenweise scannen. Maarten N. beklagt auch, dass ihm das vereinbarte Stundenpensum – 25 Stunden in seinem Fall – um ein Fünftel gekürzt worden sei. Eine zugesagte Wiederaufstockung sei nicht erfolgt, stattdessen habe es – entgegen früheren Zusagen – Kündigungen von Mitarbeitern gegeben. Trotzdem hätten Mitarbeiter immer weniger Platz, weil man Regale zusammengestellt habe, um mehr Pakete lagern zu können. Amazon bestreitet die Aussagen. „Wir denken nicht, dass die Vorwürfe die Wirklichkeit in unseren Gebäuden widerspiegeln“, heißt es.
Die GPA-djp bietet dem Mann, der inzwischen Gewerkschaftsmitglied ist, Rechtsschutz. GPA-Vorsitzende Teiber fordert die künftige Bundesregierung auf, die Anzahl von Leiharbeitskräften mit der Zahl der regulären Beschäftigten in Unternehmen zu limitieren. In Großebersdorf seien offiziell 16 Mitarbeiter beschäftigt, tatsächlich aber 150 Leiharbeiter im Einsatz. Teiber verlangt nach sechs Monaten die verpflichtende Übernahme von Leiharbeitskräften in ein reguläres Dienstverhältnis. Als Sofortmaßnahme hat die GPA eine Telefonhotline für Beschäftigte bei Amazon eingerichtet (0676-817111013). Weitere rechtliche Schritte würden geprüft, auch die Frage, ob hier Fälle von Scheinselbstständigkeit vorliegen. Amazon scheine hart an der Grenze zur Legalität zu schrammen, sagt Teiber, die im hohen Anteil von Leiharbeitern einen „klaren Missbrauch“sieht. Dieses Instrument sei nur zur Abdeckung von Arbeitsspitzen gedacht.
Einen Mitstreiter hat die Gewerkschaft von eher ungewohnter Seite – dem heimischen Handel. Denn die Konkurrenz ausländischer Onlinegiganten bringt nicht nur Mitarbeiter unter Druck, sondern auch die Händler selbst. Denn mehr als die Hälfte des Onlineumsatzes machen ausländische Anbieter – allen voran Amazon. 4,5 Mrd. Euro gehen dem heimischen Handel so im Jahr verloren, rechnet HandelsverbandChef Rainer Will vor. „Es kann nicht sein, dass sich der heimische Handel, aber auch österreichische Onlineanbieter an strenge Kollektivverträge und Beschäftigungsregeln halten müssen, die ausländische Konkurrenz aber nicht.“
Auf Beschwerde des Handels hat die Bundeswettbewerbsbehörde BWB auch Ermittlungen gegen Amazon eingeleitet. Der Vorwurf: unfaire Geschäftspraktiken und Missbrauch der Marktmacht. Heimische Händler, die Amazon als Marktplatz nutzten, würden benachteiligt, durch grundlose Sperren oder indem sie gegenüber dem Amazon-Angebot im Produktranking zurückgereiht würden.
„Nur ein Mal vereinbarten Lohn erhalten.“Maarten N., Amazon-Mitarbeiter