Russischer YouTuber klärt über Stalins Schreckensherrschaft auf
Juri Dud füllt mit seinem Internetfilm „Kolyma“über das Gulag-System ganz unerwartet eine Leerstelle im Schulsystem und treibt so Schüler und Studenten scharenweise ins Museum.
MOSKAU. Er kämpft gegen Schneemassen und minus 55 Grad Celsius: Den russischen YouTuber Juri Dud treibt die eisige Kälte am abgeschiedenen Rand des Riesenreichs in Kolyma zu einem ungewöhnlichen Film an. Mitten im Winter versucht er auf der sogenannten Straße der Knochen mit einer Länge von rund 2000 Kilometern eines der dunkelsten Kapitel in der russischen Geschichte zu erklären: die Straflager unter Sowjetdiktator Stalin.
Über dieses grausame Thema wird in Russland nur selten gesprochen. Der Journalist Dud landet damit jedoch bei den Jungen einen Interneterfolg: Seit der Veröffentlichung wurde sein Video über das brutale Gulag-System rund 15 Millionen Mal gesehen. Er sticht dabei absichtlich in das Wespennest des Nichtwissens einer Generation – und treibt so die Schüler und Studenten scharenweise ins Museum.
Mit Schneeschuhen stapft der 32-jährige Dud im windfesten knallroten Parka und top gestylt bei seinen Recherchen mühsam zu verlassenen Baracken und Gefängnissen. Mit einer Drohne filmt er die unwirkliche Natur und sucht nach dem Grund, warum junge Menschen noch immer hier leben wollen. „Dieses Land ist wunderschön und brutal. Es hat eine furchtbare Geschichte und komplizierte Gegenwart“, sagt er seinen Zuschauern zu Beginn der Reise.
Von Magadan am Pazifik reist er mit dem Auto bis nach Jakutsk, einem der kältesten Orte der Welt. Dort spricht er mit Nachkommen von Gulag-Häftlingen, die die Autobahn in Eis und Kälte bauten, viele
Gegenpol zum Staatsfernsehen und zu Propagandasendern
kamen dabei um. Auch heute leben noch Enkel und Urenkel der Opfer und auch der Täter in der Region. Das Leben sei teuer und gleichzeitig eintönig, erzählt ihm Rostislaw, der als Historiker arbeitet und gleichzeitig Breakdance-Champion der Region ist. „Jeder will weg, nur leisten kann man es sich nicht.“Irgendwie müsse man sich arrangieren – auch mit der Vergangenheit.
Der Begriff Gulag, eine Abkürzung für „Hauptverwaltung der Lager“(Glawnoje Uprawlenije Lagerei), steht bis heute als Inbegriff der Schreckensherrschaft von Stalin. In der Region wurden die Häftlinge gezwungen, bei jedem Wetter Straßen zu errichten oder auch Gold und Uran abzubauen. Die Lager wurden für rund 20 Millionen Menschen zum Schicksal, etwa zwei Millionen starben. Dennoch durchweht der Mythos Stalin bis heute die russische Gesellschaft. Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts Lewada bewundert jeder vierte Russe den einstigen Kremlchef. Gleichzeitig gibt knapp jeder dritte Jugendliche an, noch nie etwas von den Verbrechen Stalins gehört zu haben.
Genau das gibt Dud, der in Russland schon lang aufgrund provokanter Interviews auf seinem YouTube-Kanal mit Kremlkritikern und Politikern bekannt ist, als Grund für seine ungewöhnliche Recherche an. „Die jungen Menschen fühlen sich dabei nicht überfordert, unwissend und klein“, erklärt die Historikerin Irina Scherbakowa von der renommierten Menschenrechtsgruppe Memorial. Mit bewusst naiven und streitlustigen Fragen sei Dud ein Gegenpol zu Staatsfernsehen und Propagandasendern, die Stalin heroisierten und die Verbrechen vielfach nur nebenbei erwähnten.
Deshalb sei ein solches Projekt schon lange notwendig gewesen, sagt Scherbakowa. „In Russland wird der Stalin-Kult immer stärker. Das kommt von der Politik und das wünscht sich auch die Gesellschaft“, sagt die Expertin. „Der Geist ist da, auch bei den Lehrern.“Gleichzeitig gebe es immer mehr Interesse, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten. „In Russland ist die Zukunft unsicher. Die jungen Menschen wollen deshalb wissen, woher sie kommen, und ihre Identität kennenlernen.“Im Internet fänden Interessierte viel leichter Daten, vor allem wenn ihnen der Zugang zu Archiven erschwert werde, sagt sie. Dud habe also einen Nerv getroffen.
Einige Kommentatoren wetterten kurz nach der Veröffentlichung, dass das Projekt zu banal sei. Die Jugendlichen sollten sich zu diesem Thema nicht im Internet herumtummeln, hieß es. Doch Duds Fans lässt das Kapitel auch weiter nicht kalt: Der Film habe einen Besucherboom im Gulag-Museum in Moskau ausgelöst, bestätigten Mitarbeiter auf Anfrage. Das gibt Historikerin Scherbakowa eine leise Hoffnung: „Wenn der Film es schafft, den immensen Geschichtsdurst junger Menschen zu stillen, dann ist das der größte Erfolg. Eine politische Diskussion wird es in diesem System aber nicht geben.“