Vom Despotensturz zum „gescheiterten Staat“? Die schwierige Entwicklung in Libyen
Ein Land in Chaos und Bürgerkrieg, von Frieden weit entfernt. Wie geht es weiter in Libyen? SN: Haben die Europäer die Gefährlichkeit des Krisenherdes Libyen nicht erkannt? Andreas Dittmann: Sie haben die kritische Lage dort zumindest lange unterschätzt. Jetzt wacht man auf, weil die von Europa so gefürchtete Flüchtlingswelle in den Medien diskutiert wird. Manchmal hat man den Eindruck, dass Europa in den Jahren vor und nach der „Arabellion“2011 eine Liste der schlimmsten Fehler abgearbeitet hat. SN: Wie kann das Land aus dem Teufelskreis nicht endender Kämpfe verschiedener Milizen herauskommen? In Libyen mischen auch viele externe Akteure mit. Sie verfolgen verschiedene Ziele und arbeiten auch gegeneinander. Ein wichtiger Schritt wäre wohl, wenn die äußeren Mächte ihre ursprünglich formulierten Vorhaben in die Tat umsetzten. Für den Fall Libyen hat der UNO-Sicherheitsrat seinerzeit drei Verantwortlichkeiten beschlossen. Zum einen ging es um die Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen (responsibility to protect). Die hat man wahrgenommen, durch den Schutz der Bürger vor dem despotischen Herrscher Muammar al-Gadafi. Zweitens wurde beschlossen, zu diesem Zweck militärisch einzugreifen. Auch das ist geschehen. Das dritte Ziel war die Verpflichtung zum Wiederaufbau. Dazu ist es nach dem Sturz Gadafis 2011 nicht gekommen. SN: Weshalb denn nicht? Weil Libyen für den Westen plötzlich nicht mehr so interessant war wie noch zu Beginn der „Arabellion“. Unsere Staaten haben sich stets für den Erdölreichtum Libyens interessiert. Auch als es darum ging, gegen Gadafi einzuschreiten, haben manche darauf geschielt. Aber ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Gadafi weg war, sprudelte Erdöl aus zwei anderen Quellen. Zum einen ist ein Erdölverkaufsembargo gegen den Iran gelockert worden. Zum anderen produzierten auf einmal auch die Erdölplattformen vor der Küste Angolas reichlich. Deshalb hat man das Projekt des Wiederaufbaus, das den Zugriff auf das Erdöl zur Folge gehabt hätte, aufgegeben. Man hat Libyen sich selbst überlassen. SN: Jetzt tobt in Libyen der Kampf zweier Regierungen gegeneinander. Spiegeln sich darin alte Gegensätze des Landes? Geschichtlich gesehen gibt es in Libyen schon seit Jahrtausenden die Frontstellung zwischen zwei Hauptkontrahenten: der Osten gegen den Westen. Nur findet dieser Kampf diesmal mit verkehrten Rollen statt.
Die gewählte, liberale, zumindest nicht stark religiös geprägte Regierung ist innerhalb des Landes vertrieben worden – durch Terror in Tripolis, durch Schießereien im Parlament dort, durch Bedrohung der Abgeordneten. Die Regierung ist deshalb von Tripolitanien im Westen in die Cyreneika im Osten, also das Gebiet um Bengasi, geflüchtet. In Tripolis hingegen hat sich eine Regierung festgesetzt, die mit diversen Milizen paktierte, unter denen auch islamistische sind. Fatalerweise hat der Westen diese Regierung offiziell anerkannt. SN: Welche Gründe haben zu dieser widersinnigen Entscheidung geführt? Die Europäer hatten vor allem ein Interesse daran, im Raum Tripolis einen staatlichen Verhandlungspartner zu haben, mit dem man einen Flüchtlingsdeal aushandeln konnte. Ein Deal ist nicht möglich mit einem Dutzend von Milizen, die einander befehden. Man braucht dort, wo die Flüchtlingsboote starten, jemanden, der dort die Oberhoheit hat. Deshalb also die Kooperation mit den Regierenden in Tripolis. Das bedeutete: die libysche Küstenwache ausbilden und ausrüsten, ihr Schiffe zur Verfügung zu stellen. Diese Sache war für die Europäer wichtiger noch als das Erdöl. Die Idee, die Flüchtlingsströme in Libyen bereits auf afrikanischem Boden zu stoppen, reiche weit in die Zeit vor der „Arabellion“2011 zurück, erläutert Andreas Dittmann im SN-Gespräch. Diktator Gadafi habe im Zuge seiner „Selbst-Entschurkung“den westlichen Staaten eine Kooperation angeboten. Geschockt war Gadafi wie andere Machthaber in der arabischen Welt von der raschen Demontage der irakischen Armee nach dem Sturz von Gewaltherrscher Saddam Hussein durch die USA 2003. Gadafi konnte sich folglich an fünf Fingern abzählen, dass ihm ein ähnliches Schicksal drohen könnte, wenn er seine Schützenhilfe für Terrorgruppen sowie die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen nicht einstellen würde. SN: Doch der Kampf um Ressourcen ist offenkundig auch hier ein wichtiges Motiv. Warum sollten Italien und Frankreich sonst in Libyen derart unterschiedlich Partei nehmen? Um das libysche Erdöl kämpfen die Italiener und die Franzosen tatsächlich erbittert. Italien hält mit seinem halbstaatlichen Konzern Eni 25 Prozent von Libyens Erdölexporten. Frankreich will seinen Anteil von derzeit fünf Prozent unbedingt steigern. Es arbeitet im Libyen-Konflikt folglich gegen Italien, das heute seine alten kolonialen Beziehungen zum „Italien jenseits des Meeres“wieder betont. SN: Realität ist in Libyen seit Jahren ein Bürgerkrieg, der von äußeren Mächten befeuert wird. Muss man gar bedauern, dass Gadafi im „arabischen Frühling“von der Macht gedrängt worden ist? Gadafi war ein brutaler Herrscher, der keine Opposition duldete. Gegen ihn gab es dutzendfach Attentatsversuche. Für die Europäer habe Gadafi den Job des Grenzpolizisten übernommen, berichtet Dittmann – mit der Einrichtung von Lagern, wo Flüchtlinge und Migranten „konzentriert“werden sollten; finanziert mit Geld der Europäischen Union in Brüssel. „Schmutzige Flüchtlingsdeals existierten also schon vor dem Staatszerfall Libyens nach dem arabischen Aufstand.“ Jedes Mal hat der Despot die daran Beteiligten, ob schuldig oder nicht, auf spektakuläre Weise öffentlich hinrichten lassen. Heute besteht in Libyen eine Situation, in der jeder gegen jeden kämpft, in der niemand mehr weiß, wer Freund und wer Gegner ist.
Das erklärt die Zustimmungswelle für General Khalifa Haftar, der zuletzt mit militärischen Kräften vom Osten aus losgezogen ist, um die Regierung in Tripolis wegzufegen. Er wird von vielen Libyern offenbar als starker Mann gesehen, der endlich wieder Ordnung schafft. Die Libyer haben ja schon seit acht Jahren Bürgerkrieg, und sie haben längst die Nase voll davon. Die Libyer wünschen sich jemanden, der Ruhe herstellt, damit sich das Land entwickeln kann. SN: Tatsächlich hätte Libyen, im Unterschied zu anderen Ländern des arabischen Aufstandes, reiche Ressourcen. Wieso sind diese Chancen nicht genützt worden? Vor allem auf Betreiben der Franzosen griffen die westlichen Mächte 2011 in den Kampf von Aufständischen gegen Gadafi ein. Die USA setzten unter Präsident Barack Obama auf „Führung aus dem Hintergrund“, trugen aber mit ihren militärischen Ressourcen zum Erfolg der Intervention europäischer und arabischer Staaten bei. Im Gegensatz zu Tunesien gelang in Libyen der Aufbruch zu einer neuen, demokratischen Ordnung nicht. Eine Vielzahl von Milizen kämpfte stattdessen gegeneinander; die im Land kursierenden Waffen wurden nicht eingesammelt. Deswegen konnte der Konflikt nach Süden weiterwandern und bald auch Mali destabilisieren.
„Heute ist Libyen wohl das Land mit der am stärksten bewaffneten Zivilbevölkerung weltweit“, konstatiert Dittmann. Im Grunde hat Libyen hervorragende Voraussetzungen für eine Entwicklung gehabt. Es hat unermessliche Erdölschätze, die wahrscheinlich noch mehr als 60 Jahre lang reichen, wenn sie weiter ausgebeutet würden. Das Land hat zweitens eine relativ kleine Bevölkerung (4,3 Millionen Menschen), die mit Geld versorgt werden muss. Eigentlich müsste es klappen. Aber man hat nie Demokratie gehabt in Libyen. Das politische Experiment, Demokratie in diesem Land über Nacht einzuführen, ist gescheitert. SN: Sehen Sie dennoch positive Perspektiven für das Land? Das Hauptproblem ist die nicht gelernte Demokratie. Wenn es gelingt, Demokratie als ernst zu nehmende Alternative zu gewaltbeherrschten Staatskontrollsystemen zu etablieren, gibt es Hoffnung für das Land.
Das Problem ist auch, dass die internationalen Akteure wie etwa die Europäer mit gespaltener Zunge reden. Zu den äußeren Mächten zählen auch Katar und die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Ägypten sowie SaudiArabien, dazu im Hintergrund Russland und die USA. Diese Staaten machen in Libyen verschiedene Lager auf und haben primär das Interesse, ihre Profite aus dem Konflikt zu ziehen. Eine instabile Situation scheint ihnen attraktiver zu sein als ein beständiger Staat in Libyen, denn der kann beim Geschäftemachen nur hinderlich sein. Andreas Dittmann