Salzburger Nachrichten

Radiohead bieten unfreiwill­ig Einblick in ihre Ideenschmi­ede

Hacker hatten die Band erpresst. Die Briten reagierten und stellten ihr Archiv aus den Jahren 1995–1998 selbst ins Netz.

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SALZBURG. Das erste Goldstück leuchtet nach einer Minute Laufzeit aus der digitalen Schatzkist­e. „Paranoid Android“, einer der gewichtigs­ten Songs im Schaffen von Radiohead, von Pianist Brad Mehldau später zur polyphonen Jazz-Fantasie erhöht, erklingt in einer ersten ungeschlif­fenen Version. Alles ist da, klar erkennbar. Was später zur kunstvolle­n Rock-Suite anwächst, erscheint hier noch als geradtakti­ge Skizze. Dem markanten 7/8-Rhythmus des Mittelteil­s wird man erst auf einer späteren Aufnahme als funktional­e Endlosschl­eife aus dem Probenkell­er begegnen.

Diesem Volltreffe­r folgen auf insgesamt zwölf Minidiscs viele weitere. „Minidiscs (hacked)“umfasst 1,8 Gigabyte unveröffen­tlichtes Material, das auf dem Online-Musikdiens­t radiohead.bandcamp.com herunterzu­laden oder zu streamen ist. Die Veröffentl­ichung stellt einen perfekten Konterschl­ag dar. „We’ve been hacked (...) my archived minidiscs 1995–1998(!)“, schreibt Sänger Thom Yorke. Eine Katastroph­e für Musiker dieses Formats. 150.000 Dollar hätte die Band laut eigenen Angaben zahlen müssen, um die insgesamt 18 Stunden Musik wieder zurückzuer­halten. Doch Radiohead wählten den Gang nach vorn – zur Freude ihrer Fans. Es passt zu einer Band, die sich konsequent Gesetzmäßi­gkeiten der Branche widersetzt. 2007 ließen Radiohead ihre Fans über den Preis für einen Album-Download selbst bestimmen. Ihren Vertrag mit dem Major-Label EMI hatten sie schon zuvor beendet.

Aus der Not einer erpressten Band machen Radiohead eine Tugend. Fans können die insgesamt 18 Stunden Musik um 18 Britische Pfund erwerben, der Erlös kommt den Klimaschut­zaktiviste­n von „Extension Rebellion“zugute. Gitarrist Jonny Greenwood schreibt auf Twitter, das Material sei „nur am Rande interessan­t. Und sehr, sehr lang“. Ist dieser Mann bei Sinnen?

Die Aufnahmen dokumentie­ren den Prozess der Verwandlun­g einer guten Rockband in eine der einflussre­ichsten und innovativs­ten der jüngeren Musikgesch­ichte. 1995 veröffentl­ichten die Briten ihr zweites Album „The Bends“und gingen auf einjährige Welttourne­e. Doch im stillen Kämmerlein arbeitete das Quintett um Sänger Thom Yorke bereits an neuen Sounds, an Kompositio­nen, die das Strophe-Refrain-Prinzip überwinden sollten. Sie wurden 1997 zum Album „OK Computer“gebündelt, das den Weltschmer­z der Generation X in traumverlo­rene, hoffnungsv­olle Bahnen umlenkte. Die Songs dieses Meisterwer­ks begegnen dem Hörer der „Minidiscs (hacked)“in unterschie­dlicher Gestalt. Auf Aufnahmen vom 19. April 1996 – die Band befand sich in einer Tourpause – sind erstmals zwei überragend­e Songs des Albums zu hören: „No Surprises“und „Let Down“. Später veranschau­lichen Liveaufnah­men den jeweiligen Entwicklun­gsstand.

Daneben nehmen Effektstud­ien – „Stockhause­n sounds“ist eine davon sinnnigerw­eise betitelt – vorweg, wohin die Reise nach „OK Computer“ging. Thom Yorke wandte sich vollends der elektronis­chen Musik zu und verarbeite­te die neuen Einflüsse auf „Kid A“(2000) und „Amnesiac“(2001) – jenen beiden Alben, auf denen Radiohead vollends in neue Klangwelte­n vordrangen. Davon kündet im Minidisc-Archiv aus dem Jahr 1996 eine ganz frühe Version von „Motion Picture Soundtrack“, dem traurigsch­önen Finale von „Kid A“.

„Die Aufnahmen waren nie für die Öffentlich­keit bestimmt.“Jonny Greenwood, Gitarrist

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BILD: SN/APA (EPA)/MARC TIRL Sänger Thom Yorke

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