Phantomschmerzen
100 Jahre ist es her, dass das Habsburgerreich zerbrach. Was übrig blieb, war Österreich. Wie geht es denen, die heute dort leben, wo einst österreichischer Boden war? Ein Lokalaugenschein.
Südtirol und Italien: Das wird für Jürgen Wirth Anderlan nie zusammenpassen. „Wir befinden uns seit hundert Jahren in einer Zwangsehe. Südtirol hatte nie das Recht, zu bestimmen, wohin es gehen will.“
Jürgen Wirth Anderlan ist mit seiner Meinung nicht allein. Und er spricht auch nicht für sich allein. Anderlan ist der neue Landeskommandant der Südtiroler Schützen. 5000 Mann in 144 Kompanien: Sie sind die Ersten, die protestieren und aufmarschieren, wenn sie die Rechte Südtirols durch Rom bedroht sehen. Und Anlässe für Aufmärsche gibt es immer wieder. Eine permanente Provokation ist für sie etwa das faschistische Siegesdenkmal in Bozen. „Denkmäler, die unsere Volksgruppe beleidigen, sollen wegkommen“, sagt Anderlan. Auch die „erfundenen“, „pseudoitalienischen“Ortsnamen müssten weg. Italien sollte respektieren, dass Südtirol „Tiroler Boden ist, immer schon gewesen ist und auch bleibt“.
Vor hundert Jahren ging der „Tiroler Boden“südlich des Brenners für Österreich verloren. Die Alliierten hatten Südtirol schon 1915 den Italienern versprochen. Mit dem Friedensvertrag von St. Germain im September 1919 wurde das Kriegsbeute-Versprechen dann eingelöst.
Doch kaum ein Tiroler wollte das damals wahrhaben. Die Empörung war groß, als im April 1919 erste Meldungen auftauchten, dass sich ausgerechnet US-Präsident Woodrow Wilson, der Advokat des Selbstbestimmungsrechts der Völker, auf die Brennergrenze festgelegt hätte. Wenige Monate später war die „ungeheuerliche Vergewaltigung“, wie es die „Innsbrucker Nachrichten“nannten, traurige Gewissheit. Am 10. September wurde der Friedensvertrag unterzeichnet, am 10. Oktober 1920 folgte die förmliche Annexion durch Italien. Am Abend davor hatten in Nordtirol die Kirchenglocken eine halbe Stunde lang geläutet, wie die Historiker Marion Dotter und Stefan Wedrac in ihrem soeben erschienenen Buch über die Teilung Tirols berichten („Der hohe Preis des Friedens“, Tyrolia Verlag). „Landtag und Gemeinderäte hielten Trauersitzungen ab, in den schwarz beflaggten Kirchen fanden Trauergottesdienste statt, Geschäfte und Betriebe blieben geschlossen. Kinos sollten ,unwürdige Programme‘ vermeiden.“
Weg von Italien: Das war damals der sehnlichste Wunsch der Südtiroler. Und dieser Ruf ist bis heute nicht ganz verstummt. Im Landtagsbüro der „Südtiroler Freiheit“in Bozen ist das Erste, das ins Auge sticht, eine Landkarte mit den Minderheiten in Europa. Dann fällt der Blick auf ein Plakat, das für die italienisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft wirbt. Hier hat Sven Knoll sein Büro. „Die Südtiroler sind eine österreichische Minderheit“, sagt der Landtagsabgeordnete. „Mein Wunsch wäre, dass Südtirol zu Österreich zurückkommt, aber die Bevölkerung soll frei darüber entscheiden.“Sven Knoll, glattes Haar, Business-Casual-Look, ist rein optisch das Gegenteil seiner Vorgängerin Eva Klotz, der Tochter des Südtirol-Kämpfers Georg Klotz. Die Frau mit der Strickjacke und dem langen, zum Zopf geflochtenen Haar ist seit Jahrzehnten das Gesicht der Südtiroler Los-von-Rom-Bewegung. In den Ansichten unterscheiden sich die beiden aber nicht. „Innsbruck ist unsere Landeshauptstadt, nicht Bozen“, sagt Knoll, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum? „Weil Innsbruck die Landeshauptstadt Tirols ist.“Aber was würde es bringen, wenn Südtirol Teil von Österreich wäre, Herr Knoll? „Ich frage umgekehrt: Hätten Sie eine Freude, wenn Salzburg Deutschland angegliedert würde?“
Viele mögen wie Knoll denken. Allerdings haben die Befürworter der Unabhängigkeit zuletzt an Rückhalt verloren: Freiheitliche, Südtiroler Freiheit und BürgerUnion mussten bei der letzten Landtagswahl 2018 starke Verluste hinnehmen. Von einem „großen Dämpfer“spricht der Historiker Oswald Überegger, Direktor des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte an der Universität Bozen. Die drei Parteien hätten bei den Landtagswahlen 2013 noch knapp über 27 Prozent der Stimmen erreicht, 2018 nur mehr 13,5 Prozent. Das „Unabhängigkeitsthema“sei ein „Minderheitenprogramm“. Auch die Idee mit der Doppelstaatsbürgerschaft sei wieder eingeschlafen. Die Autonomie habe in Südtirol durchaus einen starken Rückhalt, „weil es dem Land ja gut geht“. Ähnlich sieht es Landeshauptmann Arno Kompatscher. Den Istzustand Südtirols hundert Jahre nach St. Germain bewertet Kompatscher mit „Sehr gut“. „Die Südtirolerinnen und Südtiroler sind stolz auf Südtirol, wenn sie irgendwo unterwegs sind in der Welt.“Spaghetti und Knödel – das sei etwas Besonderes.
Bei den jährlichen Vergleichen des Bruttoregionalprodukts zählt Südtirol meist zu den wohlhabendsten 20 unter 272 EU-Regionen. „In der Eurostat-Statistik, die die Kaufkraft-Paritäten vergleicht, wären wir in Österreich an zweiter Stelle. Nur Salzburg wäre vor uns“, sagt Kompatscher. Schade sei nur, dass es keinen richtigen „Autonomie-Patriotismus“gebe. Die große Mehrheit der Südtiroler scheint sich aber zumindest mit der Autonomie angefreundet zu haben. Die öffentliche Meinung hat sich in vielerlei Hinsicht gewandelt: Nach Angaben des Forschungszentrums Eurac Research sahen 1991 noch 38 Prozent der Südtiroler Probleme im Zusammenleben der Sprachgruppen, jetzt sind es nur mehr sieben Prozent.
Freilich war es bis zur heutigen Autonomie ein weiter Weg. Der Abtretung Südtirols an Italien mit dem Friedensvertrag von St. Germain folgte eine Zeit der Unterdrückung und Zwangsitalienisierung im faschistischen Italien. Deutsche Schulen wurden geschlossen, italienische Ortsnamen eingeführt, mit Beamten konnte man nur noch italienisch reden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verweigerten die Siegermächte Südtirol weiterhin das Selbstbestimmungsrecht. Grundlage des Minderheitenschutzes ist das zweite Autonomiestatut aus 1972, im Jahr 1992 folgte die Streitbeilegung vor der UNO. Mit der europäischen Integration und dem EU-Beitritt Österreichs sank überdies die Bedeutung der Staatsgrenzen.
Dennoch werfen die Jahre der faschistischen Diktatur unter Benito Mussolini noch immer einen langen Schatten in die Gegenwart. Denn der Faschismus wurde in Italien nie richtig aufgearbeitet. Und er ist bis heute unübersehbar – man denke nur an die monumentalen Soldaten-Gebeinhäuser. Beim Bozner Siegesdenkmal wurde zwar ein Museum eingerichtet. Der Betonklotz, in dem der Größenwahn der Faschisten architektonisch festgehalten wurde, prägt dennoch weiterhin das Stadtbild. Ebenso wie das Mussolini-Relief auf dem Gerichtsplatz, das anschaulich zeigt, wie verlegen die Stadtpolitik mit der Geschichte umgeht. Anstatt es zu entfernen, hat man das Relief mit einem verkürzten Zitat Hannah Arendts ergänzt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“Was nicht nur eine halbherzige Lösung ist, sondern auch eine skurrile Facette hat, wenn man bedenkt, dass im Gebäude gegenüber die Richter im Landesgericht ihre Urteile fällen.
St. Germain wirke in mancher Hinsicht eben immer noch nach, sagt der Historiker und ehemalige grüne Landtagsabgeordnete Hans Heiss. Zwar sei die Frage der Zugehörigkeit geklärt. „Wir sind ein Teil Italiens. Aber die innere Akzeptanz dieser Zugehörigkeit ist längst nicht bei allen Südtirolern vorhanden. Die war bei vielen nie so richtig vorhanden. St. Germain ist historisch natürlich ein Unrecht gewesen – und das wird nach wie vor von Teilen der Bevölkerung so wahrgenommen.“Faktisch habe sich aber in den vergangenen Jahrzehnten viel verbessert. „In der Landesverwaltung ist die Zweisprachigkeit verpflichtend. Sie haben das Recht, am Schalter mit Beamten deutsch sprechen zu können. In den 1960er-, ’70er-Jahren war von Deutsch im öffentlichen Leben noch keine Rede.“Was Anlass zur Sorge gebe, sei, dass die Sprachkenntnisse auf beiden Seiten zuletzt stark nachgelassen hätten. „Man lebt aneinander vorbei, die Welten sind stark getrennt. Die Schulen sind getrennt, der berufliche Alltag ist vielfach getrennt.“
Das sehen auch viele Junge so. Es gebe noch immer Barrieren zwischen den Sprachgruppen, getrennte Musikschulen, Jugendtreffs, Sportclubs, Schulen und Kindergärten. Es brauche nicht noch mehr Grenze und Stacheldraht, sagt Judith Kienzl von der nächsten Generation der Südtiroler Grünen, den „Young Greens“. „Wir sehen die Zukunft mit Sicherheit in Europa.“Die Rufe nach Unabhängigkeit von Italien seien „absolut nicht zukunftsweisend“.
In die Zukunft will auch der Landeshauptmann schauen. Die seinerzeitige Grenzziehung sei „völkerrechtlich Unrecht“gewesen, sagt Kompatscher – „so wie die faschistische Ortsnamengebung ein Unrecht war“. Man wolle aber nicht die Fehler von damals wiederholen. Deshalb solle es auch in der Ortsnamenfrage einen Kompromiss geben, demzufolge nur jene italienische Ortsbezeichnungen zurückgenommen würden, die nicht in weitgehendem Gebrauch stünden. Schließlich seien viele italienische Bürger mit bestimmten Ortsnamen aufgewachsen. „Wir ziehen nicht Grenzen, wir überwinden Grenzen.“
Man lebt in Südtirol aneinander vorbei, die Welten sind getrennt. Hans Heiss Historiker