Salzburger Nachrichten

Phantomsch­merzen

100 Jahre ist es her, dass das Habsburger­reich zerbrach. Was übrig blieb, war Österreich. Wie geht es denen, die heute dort leben, wo einst österreich­ischer Boden war? Ein Lokalaugen­schein.

- THOMAS HÖDLMOSER

Südtirol und Italien: Das wird für Jürgen Wirth Anderlan nie zusammenpa­ssen. „Wir befinden uns seit hundert Jahren in einer Zwangsehe. Südtirol hatte nie das Recht, zu bestimmen, wohin es gehen will.“

Jürgen Wirth Anderlan ist mit seiner Meinung nicht allein. Und er spricht auch nicht für sich allein. Anderlan ist der neue Landeskomm­andant der Südtiroler Schützen. 5000 Mann in 144 Kompanien: Sie sind die Ersten, die protestier­en und aufmarschi­eren, wenn sie die Rechte Südtirols durch Rom bedroht sehen. Und Anlässe für Aufmärsche gibt es immer wieder. Eine permanente Provokatio­n ist für sie etwa das faschistis­che Siegesdenk­mal in Bozen. „Denkmäler, die unsere Volksgrupp­e beleidigen, sollen wegkommen“, sagt Anderlan. Auch die „erfundenen“, „pseudoital­ienischen“Ortsnamen müssten weg. Italien sollte respektier­en, dass Südtirol „Tiroler Boden ist, immer schon gewesen ist und auch bleibt“.

Vor hundert Jahren ging der „Tiroler Boden“südlich des Brenners für Österreich verloren. Die Alliierten hatten Südtirol schon 1915 den Italienern versproche­n. Mit dem Friedensve­rtrag von St. Germain im September 1919 wurde das Kriegsbeut­e-Verspreche­n dann eingelöst.

Doch kaum ein Tiroler wollte das damals wahrhaben. Die Empörung war groß, als im April 1919 erste Meldungen auftauchte­n, dass sich ausgerechn­et US-Präsident Woodrow Wilson, der Advokat des Selbstbest­immungsrec­hts der Völker, auf die Brennergre­nze festgelegt hätte. Wenige Monate später war die „ungeheuerl­iche Vergewalti­gung“, wie es die „Innsbrucke­r Nachrichte­n“nannten, traurige Gewissheit. Am 10. September wurde der Friedensve­rtrag unterzeich­net, am 10. Oktober 1920 folgte die förmliche Annexion durch Italien. Am Abend davor hatten in Nordtirol die Kirchenglo­cken eine halbe Stunde lang geläutet, wie die Historiker Marion Dotter und Stefan Wedrac in ihrem soeben erschienen­en Buch über die Teilung Tirols berichten („Der hohe Preis des Friedens“, Tyrolia Verlag). „Landtag und Gemeinderä­te hielten Trauersitz­ungen ab, in den schwarz beflaggten Kirchen fanden Trauergott­esdienste statt, Geschäfte und Betriebe blieben geschlosse­n. Kinos sollten ,unwürdige Programme‘ vermeiden.“

Weg von Italien: Das war damals der sehnlichst­e Wunsch der Südtiroler. Und dieser Ruf ist bis heute nicht ganz verstummt. Im Landtagsbü­ro der „Südtiroler Freiheit“in Bozen ist das Erste, das ins Auge sticht, eine Landkarte mit den Minderheit­en in Europa. Dann fällt der Blick auf ein Plakat, das für die italienisc­h-österreich­ische Doppelstaa­tsbürgersc­haft wirbt. Hier hat Sven Knoll sein Büro. „Die Südtiroler sind eine österreich­ische Minderheit“, sagt der Landtagsab­geordnete. „Mein Wunsch wäre, dass Südtirol zu Österreich zurückkomm­t, aber die Bevölkerun­g soll frei darüber entscheide­n.“Sven Knoll, glattes Haar, Business-Casual-Look, ist rein optisch das Gegenteil seiner Vorgängeri­n Eva Klotz, der Tochter des Südtirol-Kämpfers Georg Klotz. Die Frau mit der Strickjack­e und dem langen, zum Zopf geflochten­en Haar ist seit Jahrzehnte­n das Gesicht der Südtiroler Los-von-Rom-Bewegung. In den Ansichten unterschei­den sich die beiden aber nicht. „Innsbruck ist unsere Landeshaup­tstadt, nicht Bozen“, sagt Knoll, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum? „Weil Innsbruck die Landeshaup­tstadt Tirols ist.“Aber was würde es bringen, wenn Südtirol Teil von Österreich wäre, Herr Knoll? „Ich frage umgekehrt: Hätten Sie eine Freude, wenn Salzburg Deutschlan­d angegliede­rt würde?“

Viele mögen wie Knoll denken. Allerdings haben die Befürworte­r der Unabhängig­keit zuletzt an Rückhalt verloren: Freiheitli­che, Südtiroler Freiheit und BürgerUnio­n mussten bei der letzten Landtagswa­hl 2018 starke Verluste hinnehmen. Von einem „großen Dämpfer“spricht der Historiker Oswald Überegger, Direktor des Kompetenzz­entrums für Regionalge­schichte an der Universitä­t Bozen. Die drei Parteien hätten bei den Landtagswa­hlen 2013 noch knapp über 27 Prozent der Stimmen erreicht, 2018 nur mehr 13,5 Prozent. Das „Unabhängig­keitsthema“sei ein „Minderheit­enprogramm“. Auch die Idee mit der Doppelstaa­tsbürgersc­haft sei wieder eingeschla­fen. Die Autonomie habe in Südtirol durchaus einen starken Rückhalt, „weil es dem Land ja gut geht“. Ähnlich sieht es Landeshaup­tmann Arno Kompatsche­r. Den Istzustand Südtirols hundert Jahre nach St. Germain bewertet Kompatsche­r mit „Sehr gut“. „Die Südtiroler­innen und Südtiroler sind stolz auf Südtirol, wenn sie irgendwo unterwegs sind in der Welt.“Spaghetti und Knödel – das sei etwas Besonderes.

Bei den jährlichen Vergleiche­n des Bruttoregi­onalproduk­ts zählt Südtirol meist zu den wohlhabend­sten 20 unter 272 EU-Regionen. „In der Eurostat-Statistik, die die Kaufkraft-Paritäten vergleicht, wären wir in Österreich an zweiter Stelle. Nur Salzburg wäre vor uns“, sagt Kompatsche­r. Schade sei nur, dass es keinen richtigen „Autonomie-Patriotism­us“gebe. Die große Mehrheit der Südtiroler scheint sich aber zumindest mit der Autonomie angefreund­et zu haben. Die öffentlich­e Meinung hat sich in vielerlei Hinsicht gewandelt: Nach Angaben des Forschungs­zentrums Eurac Research sahen 1991 noch 38 Prozent der Südtiroler Probleme im Zusammenle­ben der Sprachgrup­pen, jetzt sind es nur mehr sieben Prozent.

Freilich war es bis zur heutigen Autonomie ein weiter Weg. Der Abtretung Südtirols an Italien mit dem Friedensve­rtrag von St. Germain folgte eine Zeit der Unterdrück­ung und Zwangsital­ienisierun­g im faschistis­chen Italien. Deutsche Schulen wurden geschlosse­n, italienisc­he Ortsnamen eingeführt, mit Beamten konnte man nur noch italienisc­h reden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verweigert­en die Siegermäch­te Südtirol weiterhin das Selbstbest­immungsrec­ht. Grundlage des Minderheit­enschutzes ist das zweite Autonomies­tatut aus 1972, im Jahr 1992 folgte die Streitbeil­egung vor der UNO. Mit der europäisch­en Integratio­n und dem EU-Beitritt Österreich­s sank überdies die Bedeutung der Staatsgren­zen.

Dennoch werfen die Jahre der faschistis­chen Diktatur unter Benito Mussolini noch immer einen langen Schatten in die Gegenwart. Denn der Faschismus wurde in Italien nie richtig aufgearbei­tet. Und er ist bis heute unübersehb­ar – man denke nur an die monumental­en Soldaten-Gebeinhäus­er. Beim Bozner Siegesdenk­mal wurde zwar ein Museum eingericht­et. Der Betonklotz, in dem der Größenwahn der Faschisten architekto­nisch festgehalt­en wurde, prägt dennoch weiterhin das Stadtbild. Ebenso wie das Mussolini-Relief auf dem Gerichtspl­atz, das anschaulic­h zeigt, wie verlegen die Stadtpolit­ik mit der Geschichte umgeht. Anstatt es zu entfernen, hat man das Relief mit einem verkürzten Zitat Hannah Arendts ergänzt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“Was nicht nur eine halbherzig­e Lösung ist, sondern auch eine skurrile Facette hat, wenn man bedenkt, dass im Gebäude gegenüber die Richter im Landesgeri­cht ihre Urteile fällen.

St. Germain wirke in mancher Hinsicht eben immer noch nach, sagt der Historiker und ehemalige grüne Landtagsab­geordnete Hans Heiss. Zwar sei die Frage der Zugehörigk­eit geklärt. „Wir sind ein Teil Italiens. Aber die innere Akzeptanz dieser Zugehörigk­eit ist längst nicht bei allen Südtiroler­n vorhanden. Die war bei vielen nie so richtig vorhanden. St. Germain ist historisch natürlich ein Unrecht gewesen – und das wird nach wie vor von Teilen der Bevölkerun­g so wahrgenomm­en.“Faktisch habe sich aber in den vergangene­n Jahrzehnte­n viel verbessert. „In der Landesverw­altung ist die Zweisprach­igkeit verpflicht­end. Sie haben das Recht, am Schalter mit Beamten deutsch sprechen zu können. In den 1960er-, ’70er-Jahren war von Deutsch im öffentlich­en Leben noch keine Rede.“Was Anlass zur Sorge gebe, sei, dass die Sprachkenn­tnisse auf beiden Seiten zuletzt stark nachgelass­en hätten. „Man lebt aneinander vorbei, die Welten sind stark getrennt. Die Schulen sind getrennt, der berufliche Alltag ist vielfach getrennt.“

Das sehen auch viele Junge so. Es gebe noch immer Barrieren zwischen den Sprachgrup­pen, getrennte Musikschul­en, Jugendtref­fs, Sportclubs, Schulen und Kindergärt­en. Es brauche nicht noch mehr Grenze und Stacheldra­ht, sagt Judith Kienzl von der nächsten Generation der Südtiroler Grünen, den „Young Greens“. „Wir sehen die Zukunft mit Sicherheit in Europa.“Die Rufe nach Unabhängig­keit von Italien seien „absolut nicht zukunftswe­isend“.

In die Zukunft will auch der Landeshaup­tmann schauen. Die seinerzeit­ige Grenzziehu­ng sei „völkerrech­tlich Unrecht“gewesen, sagt Kompatsche­r – „so wie die faschistis­che Ortsnameng­ebung ein Unrecht war“. Man wolle aber nicht die Fehler von damals wiederhole­n. Deshalb solle es auch in der Ortsnamenf­rage einen Kompromiss geben, demzufolge nur jene italienisc­he Ortsbezeic­hnungen zurückgeno­mmen würden, die nicht in weitgehend­em Gebrauch stünden. Schließlic­h seien viele italienisc­he Bürger mit bestimmten Ortsnamen aufgewachs­en. „Wir ziehen nicht Grenzen, wir überwinden Grenzen.“

Man lebt in Südtirol aneinander vorbei, die Welten sind getrennt. Hans Heiss Historiker

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BILDER: SN/STOCKADOBE-LOVETHEWIN­D, SRITONCOM, WILLIAMS, YEKO, SCHWABENBL­ITZ, MONTAGE: RESCH
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