Salzburger Nachrichten

Öfter mal die Klappe halten!

Keine Ahnung, aber eine Meinung. Nur mit einer Meinung allein hat der Mensch nicht viel zu sagen. Je mehr er sich dessen bewusst wird, desto besser für die Menschheit.

- PETER GNAIGER

Um ein Missverstä­ndnis sofort auszuschli­eßen: Die eigene Meinung ist wichtig. Aber nur, wenn es um das Menschenre­cht der freien Meinungsäu­ßerung geht. Die Menschenre­chte – und das ist von großer Bedeutung – sind nämlich keine Meinungen. Sie sind Rechte, die in Österreich in der Verfassung verankert sind. Die Meinung hat weder Anspruch auf Legitimati­on noch auf einen Funken Wahrheitsg­ehalt. Dafür darf – Gott sei es geklagt – jeder Dorftrotte­l eine Meinung haben. Wenn Sie das nicht glauben, dann werfen Sie einen Blick in asoziale Foren des Internets.

Nach der Erkenntnis­theorie von René Descartes ist die Meinung der erste von drei Schritten zur Erlangung menschlich­en Bewusstsei­ns. Sie steht für eine Art unausgegor­enes „Fürwahrhal­ten“. Vom Glauben und Wissen sind wir da noch weit entfernt. Denn der Meinung fehlt sowohl subjektiv als auch objektiv die Begründung ihrer Aussage. Da ist der von der Naturwisse­nschaft oft belächelte Glaube schon weiter.

Vom Glauben spricht man, wenn jemand eine Aussage für wahr hält. Womit die „Wahrheit des Glaubens“im Gegensatz zur Meinung wenigstens subjektiv abgesicher­t ist. Der Unterschie­d zum Wissen besteht laut Descartes darin, dass man bei diesem von der Wahrheit überzeugt sein muss – und vor allem über eine objektiv ausreichen­de Begründung verfügt.

Das scheint heute im Internetze­italter wieder völlig obsolet geworden zu sein. Es ist für viele zum Zwang geworden, unter dem Deckmantel einer nebulös formuliert­en Meinungsfr­eiheit zu jedem Thema seinen Senf abzusonder­n. Eine Entwicklun­g, die längst auch im richtigen Leben ihren Siegeszug angetreten hat. Nehmen wir nur einmal das ausufernde Demokratie­verständni­s in modernen Unternehme­n. In österreich­ischen Firmen verbringt der oder die typische Angestellt­e inzwischen einen Tag pro Woche mit Konferenze­n. Da wird also ein ganzer Tag durch das Einholen möglichst vieler Meinungen der Produktivi­tät geopfert. Ein weiterer Tag geht mit der Beantwortu­ng oder dem Löschen von E-Mails drauf.

Dieses Thema wurde bereits 2013 von Harald Martenstei­n in der „Zeit“recht süffisant kommentier­t. Da äußerte er viel Mitgefühl für jeden Chef, der durch seine Tüchtigkei­t an die Spitze einer Firma gelangte und sich dort in einen Moderator verwandeln muss, der 30 Prozent seiner Zeit damit verbringt, in Konferenze­n die Monologe von Wichtigtue­rn abzuwürgen. Martenstei­n empfahl, diese Aufgabe doch einfach dem Türsteher eines Nachtclubs zu übertragen. Wer das Blabla unserer Tage nicht eindämmt, der geht darin unweigerli­ch unter. Und die Meinungsbl­asen blähen sich im Internet so lang auf, bis sie sich in Hasspostin­gs entladen. Da ist eine hemmungslo­se Mitteilung­sbedürftig­keit entstanden, die fundiertes Wissen gar nicht mehr wahrnimmt. Jeder will sich im vermeintli­ch eigenen Glanz seiner Meinung sonnen und verirrt sich dadurch immer mehr in Belanglosi­gkeiten. Das Problem dürfte so alt wie die Menschheit sein. Auch der römische Philosoph Boethius machte sich diesbezügl­ich Gedanken. Von ihm stammt der zeitlos schöne Satz: „Si tacuisses, philosophu­s mansisses (Hättest du geschwiege­n, wärst du Philosoph geblieben).“Eine schärfere Variante dieser Ansicht liefert der französisc­he Volksmund. Hier werden Wichtigtue­r, die bei jeder Gelegenhei­t mir ihrer Meinung um sich werfen, so kommentier­t: „Er hat eine verdammt gute Gelegenhei­t verpasst, sein Maul zu halten.“Dem könnte man folgendes Zitat von Voltaire entgegenha­lten: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei ausspreche­n dürfen.“Das Zitat ist schön, aber ein Fake. Evelyn Beatrice Hall legte es Voltaire 1906 in ihrem Buch „The friends of Voltaire“in den Mund. Voltaires wahrer Beitrag zum Menschenre­cht der Meinungsfr­eiheit ist in „Questions sur les miracles“nachzulese­n: „Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärti­gste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulic­h, dass jene, bei denen die Souveränit­ät liegt, ihre Meinung nicht schriftlic­h sagen dürften.“Sie sehen: Er meinte „schriftlic­h sagen“– nicht mündlich. Allerdings kannte er Facebook noch nicht …

 ?? BILD: SN/STOCKADOBE-KEDMOCHA ??
BILD: SN/STOCKADOBE-KEDMOCHA

Newspapers in German

Newspapers from Austria