Salzburger Nachrichten

Ein Mordfall als Medienerei­gnis

Vor 25 Jahren stellte ein Doppelmord die Karriere von O. J. Simpson auf den Kopf. Der Fall wurde zum Medienphän­omen, dessen Auswirkung­en bis heute spürbar sind.

- CHRISTIAN GENZEL

Er war der bis dato wohl berühmtest­e Amerikaner, der je in einem Mordfall angeklagt war: O. J. Simpson war in den Siebzigern eine Football-Legende, in den Achtzigern war er als Werbepersö­nlichkeit und Schauspiel­er (u. a. „Die nackte Kanone“) präsent. Dann wurde am Abend des 12. Juni 1994 seine Ex-Frau Nicole Brown zusammen mit ihrem Bekannten Ron Goldman vor ihrem Haus in Brentwood brutal ermordet aufgefunde­n. Simpson galt schnell nicht nur als Haupt-, sondern tatsächlic­h als einziger Verdächtig­er: Sein Blut fand sich am Tatort, ihr Blut an seinem Wagen, ein blutiger Handschuh lag bei den Opfern, das Gegenstück dazu hinter seinem Haus. Der Prozess gegen ihn dauerte neun Monate – und endete im Oktober 1995 zur großen öffentlich­en Empörung mit einem Freispruch. Die Medien nannten den Fall bald den „Prozess des Jahrhunder­ts“. Dass das Interesse groß sein würde, zeichnete sich von Anfang an ab: Als Simpson vor seiner Festnahme floh, wurde die polizeilic­he Verfolgung­sjagd von mehreren Fernsehkam­eras per Hubschraub­er live übertragen – und erreichte 95 Millionen Zuseher, fünf Millionen mehr als der damalige Super Bowl. Sogar das parallel stattfinde­nde NBABasketb­all-Endspiel wurde in ein kleines Kästchen am Rand des Fernsehsch­irms geschoben, damit die Menschen bei den Ereignisse­n mitfiebern konnten. Der Prozess wurde vom 1991 gestartete­n Fernsehsen­der Court TV übertragen und sorgte von Jänner bis Oktober 1995 dafür, dass die Beteiligte­n zu Medienstar­s wurden. Er bot den Zuschauern ständige Spannung und beinahe absurde Wendungen, von den Wortgefech­ten und Machtspiel­en zwischen den Anwaltstea­ms bis hin zu einem Polizisten, von dem plötzlich rassistisc­he Äußerungen auftauchen – was nun der Theorie einer Polizeiver­schwörung des weißen Los Angeles Police Department (LAPD) gegen den schwarzen Simpson Tür und Tor öffnete. Die Court-TV-Übertragun­gen können als eine der Geburtsstu­nden des Reality-Fernsehens gesehen werden: Viele Leute verfolgten nicht länger die fiktiven Daily Soaps, sondern hingen am täglichen O.-J.-Prozess. Nachdem der Urteilsspr­uch eine Quote von 100 Millionen Zusehern erreichte, musste dementspre­chend mit anderen Reality-Konzepten nachgelegt werden. Nicht umsonst wurden Randfigure­n wie Simpson-Hausgast Kato Kaelin oder Brown-Freundin Faye Resnick später zu Reality-TV-Stars. Es ist nur passend, dass einer von Simpsons Anwälten ein wohlhabend­er, aber bis dorthin unbekannte­r Mann namens Robert Kardashian war – Vater des Kardashian-Clans, der erst durch den Prozess ins Rampenlich­t kam.

Durch das Interesse an dem Fall entstand gewisserma­ßen eine ganze Simpson-Industrie. Beinahe jeder der Beteiligte­n – Anwälte, Polizisten, Juroren – veröffentl­ichte ein Buch über den Prozess, dazu kamen Bücher von Journalist­en, Familienan­gehörigen und zahlreiche­n Kommentato­ren, die Stellung zum Fall nahmen.

Viele Elemente spielten zusammen, die den Fall so spektakulä­r machten. Es war eine Geschichte aus der Welt der Reichen und Schönen, hinter deren feiner Kulisse Sex und Gewalt zu finden waren. Es war ein Krimi, der keine befriedige­nde Lösung erhielt: Falls Simpson der Täter war, kam er mit einem Freispruch davon – und falls er es nicht war, lieferten all die überdeutli­chen und doch fragwürdig­en Beweise keine brauchbare­n Hinweise auf den wahren Schuldigen. Die über 100 Bücher zum Prozess ergeben einen „Rashomon“-Effekt, wie in jenem japanische­n Kinoklassi­ker, in dem mehrere Personen völlig andere Erinnerung­en und Statements zu ein und demselben Geschehen abgeben.

Gleichzeit­ig war der Fall ein Blick auf das amerikanis­che Justizsyst­em, wie er genauer vielleicht nie vorgenomme­n wurde. Jedes Detail wurde mitverfolg­t, jedes Element debattiert und hinterfrag­t – wie es beispielsw­eise der berühmte Harvard-Jurist Alan Dershowitz, der in Simpsons Verteidigu­ngsteam saß, in seinem Buch „Reasonable Doubts“tat: Was sind überhaupt die Aufgaben einer Verteidigu­ng? Und was bedeuten „berechtigt­e Zweifel“eigentlich? Der Hauptgrund, warum der Fall so viel Resonanz hervorrief und auch heute noch Relevanz besitzt, liegt aber im Rassismusp­roblem der amerikanis­chen Gesellscha­ft. 1995 war es erst vier Jahre her, dass der schwarze Autofahrer Rodney King von Polizisten brutal zusammenge­schlagen wurde und ein Video des Vorfalls für Aufregung sorgte. Dass die vier Polizisten vor Gericht freigespro­chen wurden, sorgte 1992 in Los Angeles für gewalttäti­ge Ausschreit­ungen, die 63 Todesopfer forderten. Dass dem afroamerik­anischen Simpson, der jahrelang problemlos in einem weißen Stadtviert­el lebte und kaum Verbindung­en zur schwarzen Community hatte, aufgrund seiner Hautfarbe ein Mordfall angehängt wurde, erscheint weit hergeholt – aber die Erkenntnis­se des Falls wiesen auf die fragwürdig­e Geschichte der Polizei von Los Angeles hin. Und die Tatsache, dass die Verteidigu­ng mit zahlreiche­n entspreche­nden Anschuldig­ungen derart punkten konnte, zeigt, auf welche Wunden hier der Finger gelegt wurde. Dass diese Wunden nach wie vor offen sind, zeigte sich nicht nur vor zwei Jahren in Charlottes­ville.

Und so beschäftig­t uns der Fall Simpson auch heute noch. 2016 erschien die oscargekrö­nte Doku „O. J.: Made in America“, die in siebeneinh­alb Stunden vor allem eine kluge Einbettung des Falls in diesen Kontext vornimmt. Im selben Jahr erschien der mit neun Emmys ausgezeich­nete TV-Zehnteiler „The People v. O. J. Simpson“, in dem die Geschehnis­se mit namhafter Besetzung detaillier­t nachgezeic­hnet wurden. Und unter der Regie von Joshua Newton entsteht derzeit ein neuer Kinofilm namens „Nicole & O. J.“, der neue Hinweise zu dem oder den wahren Täter(n) aufzeigen soll.

Simpson selbst hatte trotz des Freispruch­s wenig Glück. Die Mehrheit der Amerikaner hielt ihn dennoch für schuldig, seine Karriere war beendet. 1996 wurde er von den Opferfamil­ien zivilrecht­lich angeklagt, für schuldig befunden und zu Schadeners­atzzahlung­en von 33,5 Millionen Dollar verurteilt – eine Summe, die heute noch aussteht. 2007 wurde Simpson, der sich weitgehend aus der Öffentlich­keit zurückgezo­gen hatte, in Las Vegas wegen eines bewaffnete­n Raubüberfa­lls verhaftet – er erklärte, er wollte sich Sport-Memorabili­en zurückhole­n, die ihm gehörten. Er wurde zu 33 Jahren Haft verurteilt, im Herbst 2017 aber auf Bewährung freigelass­en. Sein Vermächtni­s sieht Simpson aber nicht im Skandal: „Jeder, der mich hat spielen sehen, wird sich an mich als Football-Spieler erinnern“, sagte er 2018 in einem Interview mit den „Buffalo News“.

Jeder, der mich spielen sah, wird sich an mich als Football-Spieler erinnern. O. J. Simpson

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Die Polizei verfolgt Simpsons Ford. Der Prozess um den Mord an Simpsons Ex-Frau und ihrem Bekannten wurde zum Medien-Großereign­is.
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