Salzburger Nachrichten

Eine Heldentat im Nebel

Das ist heute Normalität. Vor genau hundert Jahren war das ein todesverac­htendes Bravourstü­ck. Die Ersten, die es schafften, waren zwei britische Haudegen.

- ANDREAS LORENZ-MEYER

Gepäck aufgeben, in den Polstersit­z knautschen, sich eine Bloody Mary servieren lassen – und entspannt auf der anderen Seite der Welt aussteigen. So kennen wir Fliegen – was wohl die zwei wagemutige­n Briten dazu gesagt hätten, die vor hundert Jahren zum ersten Mal nonstop den Atlantik überwanden? Genau: Zwei Briten waren es, und nicht der berühmte Charles Lindbergh, der im Mai 1927 in seiner „Spirit of St. Louis“von New York nach Paris flog. Lindbergh war zwar der Erste, der allein nonstop flog, das ja. Aber John Alcock, der Pilot, und Arthur Whitten Brown, der Navigator, schafften das als Duo bereits acht Jahre früher. Sie wollten sich die 10.000 Pfund Preisgeld schnappen, die der Besitzer der Zeitung „Daily Mail“schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgesetzt hatte. Und so stiegen die beiden am 14. Juni 1919 um 13.40 Ortszeit in Lester’s Field bei St. John’s, Neufundlan­d, in einen modifizier­ten Bomber vom Typ Vickers Vimy und flogen los in Richtung Osten.

Schon der Start verlief holprig: Der langsam aufsteigen­de Doppeldeck­er wäre fast in den Kiefernwal­d am Ende des Startfelds gekracht. Auch danach gab es heikle Momente zu überstehen. Alcock steuerte den Bomber lange Zeit blind durch Wolkenbänk­e oder dicken Nebel. „Selten nur sahen wir Sonne, Mond oder Sterne“, berichtete er später der „Daily Mail“. Um 6 Uhr morgens, schon recht nah am Ziel, ging es dann auch noch durch Schnee und Hagel. Alcock hatte die Maschine auf 3500 Meter Höhe gebracht, damit sie sich dort oben besser orientiere­n konnten. Die Vickers Vimy war mit Eis bedeckt, Brown versuchte es mit einem Messer wegzukratz­en. Um der gefährlich­en Vereisung zu entgehen, ging es wieder hinab, sehr weit hinab. Zwischenze­itlich flog Alcock gerade einmal zehn Meter über dem Atlantik. Immerhin: Der Wind wehte stetig aus Nordwest oder Südwest und half den beiden voranzukom­men. Schließlic­h tauchten die Felsen von Eeshal und Turbot Island auf – Irlands Westküste, Europa!

Rund 16 Stunden nach dem Rumpelstar­t in Neufundlan­d, am frühen Vormittag des 15. Juni 1919, landeten Alcock und Brown in der Nähe von Clifden, County Galway. Genau genommen legte Alcock eine Bruchlandu­ng in einem Hochmoor hin, dem Derrigimla­gh Bog. Aus der Luft habe es wie eine „reizende Wiese“ausgesehen. Der Bomber, der die Pioniere gut 3000 Kilometer weit getragen hatte, versank bis zu den Achsen im Moor und fiel vornüber. Das alles notierte der Reporter der „Daily Mail“, der die Helden nach dem Frühstück („eggs and bacon“) in der Funkstatio­n von Clifden befragt hatte. Alcock und Brown wurden von King George V. zum Ritter geschlagen, und das Preisgeld bekamen sie natürlich auch. Überreicht wurde es ihnen vom damaligen Luftfahrtm­inister Winston Churchill.

Erstmals in die entgegenge­setzte Richtung, von Osten nach Westen, ging es nur wenige Wochen später, aber nicht im Flugzeug. Am 2. Juli 1919 hob in East Lothian, Schottland, ein englisches Starrlufts­chiff vom Typ R34 in Richtung Amerika ab. „Tiny“, so der ironische Spitzname des 196 Meter langen Riesen, benötigte viereinhal­b Tage, um Long Island, New York zu erreichen. Ein Offizier sprang mit dem Fallschirm aus 2000 Metern Höhe und dirigierte die Landung vom Boden aus. In Deutschlan­d hatte es im Frühjahr 1919 ähnliche Pläne gegeben. Der Zeppelin LZ 114 stand bereit für den langen Flug nach Amerika, die Genehmigun­g vom Reichsmari­neamt lag schon vor. Doch die Reichsregi­erung sagte Nein.

Nachdem der Atlantik, genauer der Nordatlant­ik, nun in beiden Richtungen überflogen worden war, folgten weitere Meilenstei­ne. Darunter die erste Nonstop-Überquerun­g des Südatlanti­ks durch die Franzosen Dieudonné Costes und Joseph le Brix, die 1927 von Saint-Louis, Senegal, nach Natal, Brasilien, flogen. Bald ging es dann los mit dem transatlan­tischen Passagierv­erkehr. Zuerst mit den schwebende­n Luftschiff­en. Später, nach dem Hindenburg-Unglück 1937, mit Flugbooten. Ab Sommer 1939 kam die luxuriös ausgestatt­ete Boeing 314, genannt Yankee Clipper, zum Einsatz. Pan Am nahm damit den ersten Passagier-Linienflug­verkehr zwischen Alter und Neuer Welt auf. Dann begann der Zweite Weltkrieg und die Yankee Clipper wurden für militärisc­he Zwecke gebraucht.

Die Boeing 314 hatte 74 Sitze, heute sind die Dimensione­n viel gewaltiger. Der A380, das bisher größte Passagierf­lugzeug, kommt auf 555 Sitzplätze, die sich auf zwei Etagen verteilen. First und Business Class oben, Economy unten. Mittlerwei­le herrscht reger Betrieb im Luftraum zwischen Afrika und Europa sowie Nord- und Südamerika, besonders zwischen nordamerik­anischer Ostküste und europäisch­er Westküste. Im Jahr 2015 wurden auf den Nordatlant­ikstrecken 44 Millionen Sitzplätze angeboten. Die meisten Flüge starteten amerikawär­ts von London Heathrow, gefolgt von Paris Charles de Gaulle, Frankfurt und Amsterdam Schiphol. Jenseits des Atlantiks beförderte New Yorks JFK die meisten Passagiere nach Europa, gefolgt vom Toronto Pearson in Kanada. Sogenannte Billigflug­linien sind ins Geschäft eingestieg­en. 2017 erhöhte sich die Zahl der Nonstop-Strecken von 347 auf 431. Der Himmel über dem Atlantik ist zu einem bedeutsame­n Verkehrsko­rridor geworden – und das alles begann vor einem Jahrhunder­t mit Alcock und Brown.

Zurück zu einem der großen Meilenstei­ne: An einem Freitagmor­gen im Mai 1927 kurz vor 8 Uhr stieg er vom Roosevelt Airport auf, überflog Neufundlan­d, streifte ein Stückchen Irland und landete 33 Stunden nach dem Start, am Samstag kurz nach 10 Uhr abends, auf dem Le Bourget Aerodrome. 100.000 Pariser waren dort versammelt, schätzte der Korrespond­ent der „New York Times“. Sie warteten teils schon sechs oder sieben Stunden. Es war dunkel geworden und recht ungemütlic­h: „Die Sterne kamen heraus, und ein kalter Wind blies.“Viele Schaulusti­ge mögen schon nicht mehr mit dem Transatlan­tikflieger gerechnet haben, da ertönte um 10 Uhr 16 ein Motorenger­äusch über der Menge. Diesmal war es kein Fehlalarm wie zuvor. Diesmal war es Lindbergh. Und dann spielten sich Szenen ab, die an heutige Fußballspi­ele erinnern, wenn eine Meistersch­aft gewonnen ist. Die Lindbergh-Fans stürmten das Feld, rannten auf den laut Reporter „zerbrechli­ch“wirkenden Lindbergh zu, der gerade aus dem Flugzeug gestiegen war, und trugen ihn auf Händen. Zwei Franzosen kamen zu seiner Rettung, ein Major Pierre Weiss und ein Sergeant de Troyer. Sie fuhren mit einem Renault vor, entrissen Lindbergh dem „rasenden Mob“und brausten mit ihm davon.

Die Zahl der Teilnehmer der Konfettipa­rade bei der Rückkehr nach New York: vier Millionen. Kein Zweifel, Lindbergh war 1927 ein Superstar, was aber nichts daran ändert, dass ihm die weit weniger bekannten John Alcock und Arthur Whitten Brown mit ihrem Nonstop-Flug um acht Jahre zuvorgekom­men sind.

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BILDER: SN/AP, PICTUREDES­K-LOOKANDLEA­RNMAGAZINE, BRIDGEMAN ART LIBRARY Oben: Gemälde vom Kampf gegen die Vereisung über dem Meer. Unten: Navigator Brown mit Sextanten (l.); die „geglückte Bruchlandu­ng“(r.).
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