Eine Heldentat im Nebel
Das ist heute Normalität. Vor genau hundert Jahren war das ein todesverachtendes Bravourstück. Die Ersten, die es schafften, waren zwei britische Haudegen.
Gepäck aufgeben, in den Polstersitz knautschen, sich eine Bloody Mary servieren lassen – und entspannt auf der anderen Seite der Welt aussteigen. So kennen wir Fliegen – was wohl die zwei wagemutigen Briten dazu gesagt hätten, die vor hundert Jahren zum ersten Mal nonstop den Atlantik überwanden? Genau: Zwei Briten waren es, und nicht der berühmte Charles Lindbergh, der im Mai 1927 in seiner „Spirit of St. Louis“von New York nach Paris flog. Lindbergh war zwar der Erste, der allein nonstop flog, das ja. Aber John Alcock, der Pilot, und Arthur Whitten Brown, der Navigator, schafften das als Duo bereits acht Jahre früher. Sie wollten sich die 10.000 Pfund Preisgeld schnappen, die der Besitzer der Zeitung „Daily Mail“schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgesetzt hatte. Und so stiegen die beiden am 14. Juni 1919 um 13.40 Ortszeit in Lester’s Field bei St. John’s, Neufundland, in einen modifizierten Bomber vom Typ Vickers Vimy und flogen los in Richtung Osten.
Schon der Start verlief holprig: Der langsam aufsteigende Doppeldecker wäre fast in den Kiefernwald am Ende des Startfelds gekracht. Auch danach gab es heikle Momente zu überstehen. Alcock steuerte den Bomber lange Zeit blind durch Wolkenbänke oder dicken Nebel. „Selten nur sahen wir Sonne, Mond oder Sterne“, berichtete er später der „Daily Mail“. Um 6 Uhr morgens, schon recht nah am Ziel, ging es dann auch noch durch Schnee und Hagel. Alcock hatte die Maschine auf 3500 Meter Höhe gebracht, damit sie sich dort oben besser orientieren konnten. Die Vickers Vimy war mit Eis bedeckt, Brown versuchte es mit einem Messer wegzukratzen. Um der gefährlichen Vereisung zu entgehen, ging es wieder hinab, sehr weit hinab. Zwischenzeitlich flog Alcock gerade einmal zehn Meter über dem Atlantik. Immerhin: Der Wind wehte stetig aus Nordwest oder Südwest und half den beiden voranzukommen. Schließlich tauchten die Felsen von Eeshal und Turbot Island auf – Irlands Westküste, Europa!
Rund 16 Stunden nach dem Rumpelstart in Neufundland, am frühen Vormittag des 15. Juni 1919, landeten Alcock und Brown in der Nähe von Clifden, County Galway. Genau genommen legte Alcock eine Bruchlandung in einem Hochmoor hin, dem Derrigimlagh Bog. Aus der Luft habe es wie eine „reizende Wiese“ausgesehen. Der Bomber, der die Pioniere gut 3000 Kilometer weit getragen hatte, versank bis zu den Achsen im Moor und fiel vornüber. Das alles notierte der Reporter der „Daily Mail“, der die Helden nach dem Frühstück („eggs and bacon“) in der Funkstation von Clifden befragt hatte. Alcock und Brown wurden von King George V. zum Ritter geschlagen, und das Preisgeld bekamen sie natürlich auch. Überreicht wurde es ihnen vom damaligen Luftfahrtminister Winston Churchill.
Erstmals in die entgegengesetzte Richtung, von Osten nach Westen, ging es nur wenige Wochen später, aber nicht im Flugzeug. Am 2. Juli 1919 hob in East Lothian, Schottland, ein englisches Starrluftschiff vom Typ R34 in Richtung Amerika ab. „Tiny“, so der ironische Spitzname des 196 Meter langen Riesen, benötigte viereinhalb Tage, um Long Island, New York zu erreichen. Ein Offizier sprang mit dem Fallschirm aus 2000 Metern Höhe und dirigierte die Landung vom Boden aus. In Deutschland hatte es im Frühjahr 1919 ähnliche Pläne gegeben. Der Zeppelin LZ 114 stand bereit für den langen Flug nach Amerika, die Genehmigung vom Reichsmarineamt lag schon vor. Doch die Reichsregierung sagte Nein.
Nachdem der Atlantik, genauer der Nordatlantik, nun in beiden Richtungen überflogen worden war, folgten weitere Meilensteine. Darunter die erste Nonstop-Überquerung des Südatlantiks durch die Franzosen Dieudonné Costes und Joseph le Brix, die 1927 von Saint-Louis, Senegal, nach Natal, Brasilien, flogen. Bald ging es dann los mit dem transatlantischen Passagierverkehr. Zuerst mit den schwebenden Luftschiffen. Später, nach dem Hindenburg-Unglück 1937, mit Flugbooten. Ab Sommer 1939 kam die luxuriös ausgestattete Boeing 314, genannt Yankee Clipper, zum Einsatz. Pan Am nahm damit den ersten Passagier-Linienflugverkehr zwischen Alter und Neuer Welt auf. Dann begann der Zweite Weltkrieg und die Yankee Clipper wurden für militärische Zwecke gebraucht.
Die Boeing 314 hatte 74 Sitze, heute sind die Dimensionen viel gewaltiger. Der A380, das bisher größte Passagierflugzeug, kommt auf 555 Sitzplätze, die sich auf zwei Etagen verteilen. First und Business Class oben, Economy unten. Mittlerweile herrscht reger Betrieb im Luftraum zwischen Afrika und Europa sowie Nord- und Südamerika, besonders zwischen nordamerikanischer Ostküste und europäischer Westküste. Im Jahr 2015 wurden auf den Nordatlantikstrecken 44 Millionen Sitzplätze angeboten. Die meisten Flüge starteten amerikawärts von London Heathrow, gefolgt von Paris Charles de Gaulle, Frankfurt und Amsterdam Schiphol. Jenseits des Atlantiks beförderte New Yorks JFK die meisten Passagiere nach Europa, gefolgt vom Toronto Pearson in Kanada. Sogenannte Billigfluglinien sind ins Geschäft eingestiegen. 2017 erhöhte sich die Zahl der Nonstop-Strecken von 347 auf 431. Der Himmel über dem Atlantik ist zu einem bedeutsamen Verkehrskorridor geworden – und das alles begann vor einem Jahrhundert mit Alcock und Brown.
Zurück zu einem der großen Meilensteine: An einem Freitagmorgen im Mai 1927 kurz vor 8 Uhr stieg er vom Roosevelt Airport auf, überflog Neufundland, streifte ein Stückchen Irland und landete 33 Stunden nach dem Start, am Samstag kurz nach 10 Uhr abends, auf dem Le Bourget Aerodrome. 100.000 Pariser waren dort versammelt, schätzte der Korrespondent der „New York Times“. Sie warteten teils schon sechs oder sieben Stunden. Es war dunkel geworden und recht ungemütlich: „Die Sterne kamen heraus, und ein kalter Wind blies.“Viele Schaulustige mögen schon nicht mehr mit dem Transatlantikflieger gerechnet haben, da ertönte um 10 Uhr 16 ein Motorengeräusch über der Menge. Diesmal war es kein Fehlalarm wie zuvor. Diesmal war es Lindbergh. Und dann spielten sich Szenen ab, die an heutige Fußballspiele erinnern, wenn eine Meisterschaft gewonnen ist. Die Lindbergh-Fans stürmten das Feld, rannten auf den laut Reporter „zerbrechlich“wirkenden Lindbergh zu, der gerade aus dem Flugzeug gestiegen war, und trugen ihn auf Händen. Zwei Franzosen kamen zu seiner Rettung, ein Major Pierre Weiss und ein Sergeant de Troyer. Sie fuhren mit einem Renault vor, entrissen Lindbergh dem „rasenden Mob“und brausten mit ihm davon.
Die Zahl der Teilnehmer der Konfettiparade bei der Rückkehr nach New York: vier Millionen. Kein Zweifel, Lindbergh war 1927 ein Superstar, was aber nichts daran ändert, dass ihm die weit weniger bekannten John Alcock und Arthur Whitten Brown mit ihrem Nonstop-Flug um acht Jahre zuvorgekommen sind.