Salzburger Nachrichten

Schattenbo­xen in Brüssel

Die Christdemo­kraten in Europa kämpfen um ihre Bastionen. Sie werden nicht alle zu halten sein. Liberale und Sozialdemo­kraten stehen vor den Türen.

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Die Europäisch­e Union hat sich vertagt. Während einer langen Gipfelnach­t, die bis zwei Uhr früh gedauert hat, konnte kein Weg gefunden werden. So soll ein Sondergipf­el am kommenden Sonntag entscheide­n, wie und mit wem die Topjobs in Europa für die nächsten fünf Jahre besetzt werden.

Ein rascherer Klimaschut­z, drängendst­es Anliegen vor allem der Jüngeren, rutschte indessen in eine Fußnote. Vor allem die rechtskons­ervativen Regierunge­n von Polen, Ungarn und Tschechien blockierte­n. Was blieb, ist ein in seiner Unverbindl­ichkeit beinahe sinnloses Bekenntnis, Emissionen senken zu wollen – ohne Fristen und ohne Datum. Am Freitag forderten erneut Tausende junge Leute wirksame Maßnahmen gegen die Erderwärmu­ng. Sie gingen in Aachen auf die Straße, der Stadt im Dreiländer­eck zwischen Deutschlan­d, Belgien und Frankreich.

Das zweite große Thema auf dem EU-Parkett ist die Suche nach einem Nachfolger für Kommission­schef Jean-Claude Juncker. Er scheidet am 31. Oktober aus dem Amt aus. Und es wird immer deutlicher, dass die Chancen von Manfred Weber rasant schwinden. Weber, CSUPolitik­er und Fraktionsc­hef der Europäisch­en Volksparte­i im EU-Parlament, trat zwar als Spitzenkan­didat seiner Parteifami­lie bei den Europawahl­en im Mai an.

Doch konnte er bislang weder eine Mehrheit im Parlament und schon gar keine im Gremium der Staats- und Regierungs­chefs hinter sich bringen. Beide Mehrheiten wären nötig, um den Job an der Spitze der mächtigste­n EU-Behörde zu ergattern.

Es gilt nur noch als Frage der Zeit, bis auch Deutschlan­ds Kanzlerin Angela Merkel von Manfred Weber abrücken muss. Nach Ende des Gipfels in Brüssel Freitagmit­tag vermied sie es geradezu auffällig, sich ausdrückli­ch hinter ihren Parteifreu­nd zu stellen. Sie selbst, so betonte sie übrigens zum wiederholt­en Mal, denke nicht daran, einen der Topjobs zu übernehmen.

Neben Junckers Posten sind noch der des Ratspräsid­enten, der Außenbeauf­tragten der EU und des Zentralban­kchefs zu besetzen. Eine Neuausrich­tung steht bevor. Drei dieser Jobs – Kommission­schef, Ratspräsid­ent, EZB-Vorstand – sind in der Hand der Christdemo­kraten. Doch ihre Bastionen werden nicht mehr zu halten sein.

Bei der Wahl für das EU-Parlament erlitten sie schwere Verluste. Obgleich die Europäisch­e Volksparte­i stärkste Fraktion blieb, benötigt sie die Hilfe der Sozialdemo­kraten und der erstarkten Liberalen für eine Mehrheit.

Und im Rat, der Runde der Staats- und Regierungs­chefs, stellen die Konservati­ven gerade einmal acht der 28 Staatschef­s. Einziges politische­s Schwergewi­cht in diesem Lager ist die deutsche Kanzlerin. Ihre Verbündete­n: Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Zypern, Irland, Lettland und Ungarn. Österreich­s Expertenka­binett nimmt keine Position ein.

Liberale und Sozialiste­n sind im Kreis der Regierunge­n in der Überzahl. Hier haben Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron für die Liberalen und Spaniens Premiermin­ister Pedro Sánchez die Führung.

Und das Parlament, das jedem Vorschlag des Rats für die JunckerNac­hfolge zustimmen muss? Auch hier ist keine Mehrheit in Sicht – weder für Weber noch für die beiden anderen Spitzenkan­didaten Frans Timmermans (Sozialdemo­kraten) und Margrethe Vestager (Liberale). Sollte es den Fraktionen nicht gelingen, bis zum Sondergipf­el am kommenden Sonntag, zwei Tage vor der Konstituie­rung des

„Ich sage immer noch Nein.“Angela Merkel zu ihrer EU-Zukunft

„Es müssen neue Namen vorgeschla­gen werden.“Emmanuel Macron, Präsident

neuen Parlaments, einen mehrheitsf­ähigen Vorschlag zu präsentier­en, dürfte sich der Rat nicht mehr an das Spitzenkan­didatenpri­nzip gebunden fühlen. Emmanuel Macron, ein erklärter Gegner dieses Prinzips, erklärte es bereits am Freitag für tot.

Damit wäre der Weg frei für Brexit-Verhandler Michel Barnier oder IWF-Chefin Christine Lagarde. Beide sind Konservati­ve, verfügen im Gegensatz zu Manfred Weber über Regierungs­erfahrung, wären für Frankreich und wohl auch die Vertreter der Sozialiste­n und Liberalen akzeptabel, die im Gegenzug den Job des EU-Ratspräsid­enten und/oder des Außenbeauf­tragten beanspruch­en könnten. Ein Trostpflas­ter für das Parlament hat Angela Merkel bereits angedeutet: Man könne für die nächste EUWahl 2024 ja ernsthaft über europaweit­e Listen nachdenken.

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BILD: SN/AP Hin und her: Ratspräsid­ent Donald Tusk (l.), Luxemburgs Premier Xavier Bettel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron.
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BILD: SN/AFP Angela Merkel wird immer wieder für einen der Jobs ins Spiel gebracht: Aber sie will nicht.

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