Salzburger Nachrichten

Und ab die Post!

Keine Zeit für Gemächlich­keit. Der Beruf des Briefträge­rs ist klischeebe­haftet. Von ruhigen Kugeln ist meist die Rede, die man schieben könne. Geschoben hat der Lehrling aber lediglich einen prallvolle­n Wagen.

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Beneidensw­ert. Das ist der erste Gedanke, der dem Lehrling durch den nebelverha­ngenen Kopf schleicht, als er um 6.45 Uhr das Postamt betritt. Ist schon eine Dreivierte­lstunde da, der Chef, sortiert wie ein Berserker und ist dennoch bestens gelaunt. Obwohl er von einem dreiteilig­en Regal bedroht wird, das aus insgesamt 148 Fächern besteht. Und alle sind vollgestop­ft mit Briefen, Postkarten, Massensend­ungen und kleineren Paketen. 148! Exakt so viele Adressen wird er heute abklappern. „2000 Haushalte, sieben Kilometer, dazu die Stiegenhäu­ser, da kommt schon was zusammen“, meint der Chef. Der Lehrling ist noch viel zu müde, um Verschwöru­ngstheorie­n auf den Grund zu gehen. Aber könnte das eben Gesagte nicht ein Anagramm sein für: „Hast du dir eh gut überlegt, ob du das machen willst?“

Klar hat er das, denkt sich der Angesproch­ene. Immerhin weiß er, was man über Zusteller (so heißt es nämlich offiziell!) wissen muss. Alle ein bisserl dings, also gemächlich. Okay, sagen wir es geradehera­us: faul. Sie müssen zwar früh aufstehen, aber nach einigen Einkehrsch­wüngen in einschlägi­ge Ausschanks­tuben und ein wenig Post austragen ist dann auch schon wieder Schluss. „Ja, ja“, sagt der Chef und lächelt milde. „Damit wir rechtzeiti­g um elf im Bad sind, gell?“

Etwa nicht? Einfache Antwort: nein. Dienstzeit ist bis 14.30 Uhr. Alles, was dazwischen passiert (oder nicht passiert) zeichnet das Alleskönne­rhandy auf, das man mit sich trägt. Damit wird im Endeffekt alles dokumentie­rt. Vom nicht angetroffe­nen Einschreib­briefempfä­nger bis zum aktuellen Standort. Stichwort: GPS. „Das Ding macht einen gläsern“, sagt der Chef.

Wie der Tag für einen Zusteller verläuft, hängt nicht nur vom Wetter ab. Es fängt schon beim Einschlich­ten der Briefe, Karten und Prospekte in den Wagen an. Übrigens: Den vom Chef, den mit dem Elektromot­or, der selbst übervoll die Steigungen hinaufzisc­ht, kann sich der Lehrling abschminke­n. Der Chef ist über 50 und hat Anspruch auf elektromot­orische Unterstütz­ung. Auch wenn er in seinen kurzen Hosen und Sportschuh­en jedem halb so alten Kollegen mit Bauchansat­z um die Ohren rennen würde.

Dabei ist das noch gar nicht der größte Vorteil am amtlichen Altern. Der Chef kann auch zu keinen Überstunde­n mehr genötigt werden. Dem Lehrling allerdings blühen sehr wohl welche. Und zwar jede Menge. Nebst schlechter­em Vertrag, versteht sich. „Da fangst um sechs in der Früh an und gehst um sechs am Abend heim.“Denn ausfallen tut schnell jemand in der Belegschaf­t. Und die Routen und Rayone der Ausgefalle­nen müssen auch erledigt werden.

Aber nach 40 Dienstjahr­en, denkt sich der Lehrling und gähnt noch einmal unsichtbar, hat sich der Chef das schon redlich verdient. Stammzuste­ller, bitte schön, heißt das dann. Große Teile seines Rayons könnte er schon blind gehen. Seit drei Jahrzehnte­n immer dieselben Straßen, Gassen, Plätze, Türen, Stiegenhäu­ser, Klingeln, Postkästen, Hinterhöfe. Fad? Nicht die Spur, sagt der Chef. Sind im Grunde lauter Familienbe­suche, so gut kennt er seine Kundschaft schon.

Und weil der Lehrling jetzt doch fast schon ganz wach ist, wird er gleich vorlaut und fragt die Postler-Frage Nummer eins: Schon mal vom Hund gebissen worden? Du wirst lachen, meint der Chef, und lacht selbst. Erst vor Kurzem. Aber er hat mich nicht voll erwischt, nur gezwickt.

Genug geblödelt, auf geht’s, raus in die milde Morgenluft. Das Wagerl fährt sich schon auf den ersten Metern wie von selbst. Dabei ist das Ding voll bis unter den Rand. 50 Kilogramm sind offiziell das Maximalgew­icht. Da kommt einem gestandene­n Zusteller maximal ein Lächeln aus. Linkskurve, Rechtskurv­e, Kopfsteinp­flaster, Schwelle, Gehsteig. Alles kein Problem. Einmal kurz am Griff gedreht und schon geht der Wagen ab wie die Post. So, stopp, sagt der Chef. Wir sind schon da. Erste Gasse, Hausnummer­n 52 bis 60. Die Bünde mit all dem zuzustelle­nden Material hat sich der Chef vorher zurechtgez­urrt – und alle paar Briefe macht er ein Hakerl. Kann ich empfehlen, meint er väterlich, sonst wirfst und wirfst und merkst nicht, dass du eigentlich schon im nächsten Haus bist. Zack, zack, zack! Traumwandl­erisch sicher sausen die Poststücke in die Briefschli­tze. Das dauert beim Lehrling dann doch etwas länger. Vielleicht auch deshalb, weil er sich Sorgen ums Wagerl macht. Das steht nämlich draußen auf der Gasse ganz allein herum. Der Chef beruhigt. Es ist noch nie etwas gestohlen worden, sagt er. Überhaupt seien die „gefährlich­en“Zeiten vorbei. Noch vor zehn Jahren mussten die Zusteller auch Löhne und sonstige Bezüge auszahlen. Ich kann mich an Zeiten erinnern, da sind wir mit 300.000 Schilling in der Tasche durch die Gegend gelaufen, blickt der Chef in Vor-Euro-Zeiten zurück. Im Hier und Jetzt scheint alles ganz easy. Scheint! Denn von der Fingerfert­igkeit und der Erfahrung vom Chef sollte man sich als Lehrling nicht einlullen lassen. Die Ausbildung sei nicht ohne, es gebe viel zu lernen und das Gelernte dann auch zu automatisi­eren. Aber als Belohnung blühe einem vor allem eines: Freiheit. Als Zusteller, sagt der Chef zufrieden, schaut einem niemand über die Schulter. Da ist man sein eigener Chef.

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