Sommer in Wien
Ich habe einen Mann mit Glatze gesehen. Er stand in der prallen Sonne und wirkte verzagt. Die Glatze glänzte rot. Vielleicht hatte man auf seiner Glatze Spiegeleier gebraten. Seine Kopfhaut sah aus wie meine Pfanne. Mit Bratflecken. Offensichtlich hatte die Sonne unterschiedlich stark seine Haut zerstört. Merkwürdig, dass er in der prallen Sonne stand. Auf der anderen Straßenseite hätte er es schattig gehabt. Ich saß in einem Café auf der schattigen Seite und beobachtete ihn. Sein Hemd war klitschnass. Das Wiener Thermometer zeigte 36 Grad im Schatten, aber er stand ja in der Sonne, wo es wahrscheinlich über 40 Grad hatte. Er stellte seine Glatze aus, als würde er es mit den Sonnenstrahlen aufnehmen wollen. Ein ungleicher Kampf.
Ich starrte ihn mindestens zwanzig Minuten an. Er stand unbeweglich da. Ohne Kopfbedeckung, in einem Anzug mit Krawatte. Überall waren Schweißflecken zu sehen. Er wirkte, als hätte man ihn als Wasserleiche aus der Donau gezogen und ungetrocknet ausgestellt. Wieso machen Männer das, fragte ich mich. Wir alle hatten Eltern, die uns vor zu starker Sonnenbelastung gewarnt haben. Ich hielt es nicht mehr aus und überquerte die Straße. Ich stellte mich neben ihn und bot ihm von meiner Sonnenmilch an. „Sonnenschutzfaktor 50“, sagte ich. „Nehmen Sie nur.“
Er sah mich an. Sein Gesicht war nass wie der Arsch von Pete Sampras nach einem fünfstündigen Tennismatch. Es tropfte aus den Ohren, den Wimpern, der Nase, den Wangen. „Sie können sich auch zu mir in den Schatten setzen. Auf ein kaltes Glas Wasser“, schlug ich vor. Er nickte mechanisch, als hätte die Sonne ihm sämtliche Synapsen verbrannt. Ich nahm ihn sicherheitshalber an die Hand und führte ihn vorsichtig ins Café. Ich reichte ihm Servietten, damit er sich notdürftig trocknen konnte. „Danke sehr“, sagte er nach einigen Minuten. Langsam wachte im Schatten sein Hirn wieder auf. Er schmierte sich seinen tiefroten Schädel mit meiner Sonnenmilch ein und lockerte den Schlips. Er zog das Sakko aus. „Oh, Mann. Was für ein gutes Gefühl“, sagte er erleichtert. „Das war jetzt fast so wie beim Skifahren. Beim Skifahren gibt es auch diesen einen Moment, der unvergleichbar ist. Wenn man endlich seine Skischuhe auszieht.“
Ich nickte. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes auf. Das Hemd war klitschnass. Mit den Servietten wischte er sich über die Unterarme, dann begann er, die Servietten auszuwringen. Ich deutete dem Kellner, ihm neue zu bringen. Er bewegte die Füße. Aus den Schuhen kamen Geräusche, als wäre Suppe darin. Er zog die Schuhe aus und schüttete den Schweiß auf die Straße. Er zog die Socken aus und dann die Anzughose. Der Kellner brachte fünf große Packungen frische Servietten. Der Mann mit der Glatze stand auf und trocknete seine Beine. Barfuß stand er vor mir. Er zog sich auch noch das Hemd aus. Jetzt hatte er nur noch seine Unterhose an. Auf der Unterhose war eine Zeichnung. Man sah einen Zahnarzt mit Mundschutz, der sich über seinen Patienten beugt. „Keep calm, Peter“, stand in einer Sprechblase. „Keep calm, Peter.“„I am not Peter. My name is Tom“, stand in der Sprechblase des Patienten. „Yes, but my name is Peter“, antwortete der Zahnarzt. Ich musste laut lachen. Der nackte Mann mit der knallroten Glatze lachte mit und auch der Kellner kam, um sich die lustige, nasse Unterhose anzusehen. Ein schöner Sommertag in Wien. Dirk Stermann