Zeichen an der Wand
ICHliebe Karikaturen. Sehr viele hängen gerahmt an der Wand in meinem Büro. Einige tragen politisch inkorrekte Bildunterschriften, andere sind einfach nur witzig. Das Tolle an Karikaturen ist, dass sie einen oft komplexen Sachverhalt mit ein paar wenigen Strichen für den flüchtigen Betrachter nachvollziehbar machen, zum Lachen und manchmal auch zum Nachdenken bringen. Nicht wenige dieser Karikaturen habe ich noch mit der Schere aus der „New York Times“herausgeschnitten. Daran können Sie ungefähr ermessen, wie alt ich bin. Aber damit ist nun Schluss – nicht mit dem Altern, das lässt sich nicht aufhalten, aber mit den politischen Karikaturen in der „Times“.
Die hat sich nun dem Shitstorm gebeugt, der losbrach, nachdem in der internationalen Ausgabe der „Times“eine geschmacklose und offensichtlich antisemitische Karikatur erschienen war.
Die Führung der „New York Times“hat sich mehrfach dafür entschuldigt, und disziplinäre Maßnahmen ergriffen, aber dabei blieb es nicht. Man entschied sich, auf die politische Karikatur künftig ganz zu verzichten. Ich halte das für eine völlig überzogene Reaktion.
Und ich frage mich, wo das hinführt. Ja, man kann auch von einem Karikaturisten verlangen, dass er mit dem Zeichenstift ebenso sorgsam umgeht wie der Journalist mit dem geschriebenen Wort. Vor allem, dass keine Personen lächerlich gemacht werden, die sich nicht wehren können. Die Grenzen dessen, was noch erlaubt ist und was zu weit geht, sind fließend – über Geschmack lässt sich bekanntlich trefflich streiten.
Aber ich finde es allmählich unerträglich, dass der grassierenden politischen Korrektheit alles untergeordnet werden muss. Dass man bei der kleinsten sprachlichen Bosheit gewärtig sein muss, dass einen der Mob in den sozialen Medien zur Sau macht und sich jedermann zum Moralisten aufschwingen kann. Wenn man Glück hat, ist der öffentliche Kotau noch das Geringste, was von einem verlangt wird. Blickt man in den schwarzen Abgrund mancher Meinungsforen, müssen sich Satiriker und Karikaturisten auf wüste Beschimpfungen gefasst machen – und noch mehr.
Tief sind wir gesunken. Aber wie schrieb Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel – eines seiner Pseudonyme – schon im Jahr 1919 im Aufsatz „Was darf die Satire?“: Alles. Recht hatte er. Aber wen interessiert das heute noch? In einer Zeit, in der man ohnehin so vieles nicht mehr sagen oder schreiben darf, weil man damit möglicherweise die Gefühle von jemandem verletzen könnte, der, obwohl gar nicht gemeint, sich solidarisiert und einen dann durch die sozialen Medien prügelt, kann die Devise daher nur lauten: „Das wird man doch noch zeichnen dürfen.“