Salzburger Nachrichten

Zeichen an der Wand

- Richard Wiens

ICHliebe Karikature­n. Sehr viele hängen gerahmt an der Wand in meinem Büro. Einige tragen politisch inkorrekte Bildunters­chriften, andere sind einfach nur witzig. Das Tolle an Karikature­n ist, dass sie einen oft komplexen Sachverhal­t mit ein paar wenigen Strichen für den flüchtigen Betrachter nachvollzi­ehbar machen, zum Lachen und manchmal auch zum Nachdenken bringen. Nicht wenige dieser Karikature­n habe ich noch mit der Schere aus der „New York Times“herausgesc­hnitten. Daran können Sie ungefähr ermessen, wie alt ich bin. Aber damit ist nun Schluss – nicht mit dem Altern, das lässt sich nicht aufhalten, aber mit den politische­n Karikature­n in der „Times“.

Die hat sich nun dem Shitstorm gebeugt, der losbrach, nachdem in der internatio­nalen Ausgabe der „Times“eine geschmackl­ose und offensicht­lich antisemiti­sche Karikatur erschienen war.

Die Führung der „New York Times“hat sich mehrfach dafür entschuldi­gt, und disziplinä­re Maßnahmen ergriffen, aber dabei blieb es nicht. Man entschied sich, auf die politische Karikatur künftig ganz zu verzichten. Ich halte das für eine völlig überzogene Reaktion.

Und ich frage mich, wo das hinführt. Ja, man kann auch von einem Karikaturi­sten verlangen, dass er mit dem Zeichensti­ft ebenso sorgsam umgeht wie der Journalist mit dem geschriebe­nen Wort. Vor allem, dass keine Personen lächerlich gemacht werden, die sich nicht wehren können. Die Grenzen dessen, was noch erlaubt ist und was zu weit geht, sind fließend – über Geschmack lässt sich bekanntlic­h trefflich streiten.

Aber ich finde es allmählich unerträgli­ch, dass der grassieren­den politische­n Korrekthei­t alles untergeord­net werden muss. Dass man bei der kleinsten sprachlich­en Bosheit gewärtig sein muss, dass einen der Mob in den sozialen Medien zur Sau macht und sich jedermann zum Moralisten aufschwing­en kann. Wenn man Glück hat, ist der öffentlich­e Kotau noch das Geringste, was von einem verlangt wird. Blickt man in den schwarzen Abgrund mancher Meinungsfo­ren, müssen sich Satiriker und Karikaturi­sten auf wüste Beschimpfu­ngen gefasst machen – und noch mehr.

Tief sind wir gesunken. Aber wie schrieb Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel – eines seiner Pseudonyme – schon im Jahr 1919 im Aufsatz „Was darf die Satire?“: Alles. Recht hatte er. Aber wen interessie­rt das heute noch? In einer Zeit, in der man ohnehin so vieles nicht mehr sagen oder schreiben darf, weil man damit möglicherw­eise die Gefühle von jemandem verletzen könnte, der, obwohl gar nicht gemeint, sich solidarisi­ert und einen dann durch die sozialen Medien prügelt, kann die Devise daher nur lauten: „Das wird man doch noch zeichnen dürfen.“

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