„Wir wollen keinen Krieg“
Von neuen und alten Kriegstreibern. Droht am Persischen Golf ein neuer Krieg? Offiziell nicht: Alle Seiten reden ununterbrochen davon, nichts als Frieden zu wollen. Ein Blick auf die Geschichte zeigt: Hochgerüstete Herrscher, die pazifistische Floskeln dr
Der 28. September 1933. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ist zur Tagung des Völkerbunds angereist. Wie der Chefdolmetscher des Auswärtigen Amts, Paul Schmidt, berichtet, ist so mancher ausländische Gesprächspartner überrascht, „anstatt des tobenden Volkstribunen einen völlig normalen, von Zeit zu Zeit liebenswürdig lächelnden Typ eines Völkerbunddelegierten vor sich zu finden“. Im Spiegelsaal des Hotels Carlton in Genf hält Goebbels vor der internationalen Presse einen Vortrag über „Das nationalsozialistische Deutschland und seine Aufgabe für den Frieden“und weist dabei die Behauptung, Hitlerdeutschland würde eine Expansionspolitik vorbereiten, als „grotesk“zurück; er beharrt darauf, dass das Aufbauwerk der deutschen Regierung „von dem Geiste des Friedens getragen“sei.
„Die Maske war perfekt“, urteilt der deutsche Historiker Ralf Georg Reuth. Die NS-Führung rüstete zum Krieg, aber die außenpolitische Propaganda Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ stand zwischen 1933 und 1936 unter der tarnenden Devise: „Wir sind kein säbelrasselndes Deutschland.“Als 1935 Hitlerdeutschland mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gegen die Entwaffnungsbestimmungen im Versailler Friedensvertrag verstieß, wurden die Friedensbeteuerungen in offiziellen Verlautbarungen noch verstärkt – während Goebbels insgeheim in sein Tagebuch schrieb: „Also rüsten und gute Miene zum bösen Spiel. Diesen Sommer laß uns o Herr noch überdauern.“Kurz darauf ließen die Nationalsozialisten bekanntlich ihre Maske fallen.
Die Historikerin Anne Morelli stellte fest, dass in der neueren Geschichte und wohl auch schon davor „von den Staatsmännern aller Länder vor der Kriegserklärung oder in der Kriegserklärung stets beteuert [wird], gegen den Krieg zu sein“. Sie arbeitete zehn Prinzipien der Kriegspropaganda heraus und formulierte – was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag – als erstes Gebot derselben: „Wir wollen keinen Krieg.“Warum? Weil Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen unpopulär ist. Gerade in Demokratien sind Regierende auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen; gegen den Willen des Volks lässt sich kein Krieg führen. Wer Krieg führen will, muss „gute“Argumente liefern.
Unter welchen Umständen erscheint ein Krieg gerechtfertigt? Bereits in der Antike wurde das Modell des „gerechten Kriegs“entwickelt – es umfasst das ius ad bellum (Recht zur Kriegsführung) sowie das ius in bello (Recht im Krieg; das Verhalten im Krieg). Für den römischen Philosophen Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) musste ein gerechter Grund vorliegen und der Krieg von den Entscheidungsträgern feierlich angekündigt werden.
Augustinus, Bischof von Hippo (354–430 n. Chr.), übte als „Kirchenvater“großen Einfluss auf das Denken des Mittelalters aus. Er nannte – wie schon Cicero vor ihm – als Kriterium einen „gerechten“Grund wie die Selbstverteidigung oder die Vergeltung von Unrecht. Der Krieg musste vom legitimen Staatsoberhaupt angeordnet werden, als Kriegsziel ließ Augustinus nur die Wiederherstellung des Friedens gelten; Ruhmsucht, Beutegier und Expansionsdrang lehnte er als ungerecht ab. Zudem forderte der Kirchenvater, im Krieg unnötige Grausamkeiten zu vermeiden und den Besiegten Milde zu zeigen.
In der Frühen Neuzeit schrieb man souveränen Staaten grundsätzlich das Recht zur Kriegführung zu; ein Krieg könnte von beiden Seiten als gerecht beurteilt werden, sofern er formalrechtlichen Kriterien genügte. Das moderne Völkerrecht ist dagegen strenger: Es verbietet Angriffskriege und erlaubt nur den Krieg zur Selbstverteidigung – oder mit Mandat des UNO-Sicherheitsrats; umstritten bleibt die humanitäre Intervention in Drittstaaten.
Ein Kriegsgrund steht meist außer Streit: die Selbstverteidigung. Wer würde einem anderen das Recht zur Notwehr absprechen wollen? Entsprechend wird bei Rüstungswettläufen und Truppenaufmärschen von beiden Seiten stets der defensive Charakter betont; man reagiere ja nur auf Provokationen der Gegenseite. Dabei geht das erste Gebot „Wir wollen keinen Krieg“(worauf meist eine ganze Litanei folgt, warum er dennoch sein müsste) nahtlos über in das zweite: „Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg“.
Selbst Angriffskriege werden manchmal als sogenannte Präventivkriege zu Verteidigungskriegen umgedeutet: „Der Gegner zwingt uns dazu. Wir haben diesen Krieg [Irakkrieg] nicht gewollt. Doch durch seine Weigerung, die Produktion seiner Massenvernichtungswaffen aufzugeben, lässt uns Saddam [Hussein] keine andere Wahl, als zu handeln“, erklärte der britische Premierminister Tony Blair im April 2003.
Die vom Feind ausgehende Gefahr wird dabei als groß und vor allem dringlich dargestellt; es gilt, in der Öffentlichkeit Angst zu schüren und keine Zeit zum überlegten Abwägen zu lassen. Doch auch vor Inszenierungen schrecken Aggressoren nicht zurück, um dann fälschlich Notwehr deklarieren zu können. 1939 verkleideten sich SS-Leute als polnische Freischärler und täuschten den Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz vor, woraufhin Hitler in einer über den Rundfunk übertragenen Rede am 1. September verkündete: „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“
Aus der Geschichte wissen wir, dass die meisten Kriege geopolitischer, strategischer sowie ökonomischer Interessen wegen geführt werden; gekämpft wird um Macht und Geld – doch die Propaganda schlägt andere, moralistische Töne an. Als Kriegsziel werden, auch dem traditionellen Modell des gerechten Kriegs folgend, bevorzugt Frieden und Sicherheit genannt. „Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele“, lautet nach Morelli das vierte Gebot der Kriegspropaganda. Die USA zogen 1917 mit dem Anspruch, „die Welt sicher für die Demokratie“zu machen in den Ersten Weltkrieg; der ehemalige US-Präsident Barack Obama sprach beim Kampf gegen Terroristen von einem gerechten Krieg („just war“).
Diese Motive wurden übrigens schon von der österreichischen Propaganda gegen Napoleon aufgegriffen. Die Kriegspartei am Wiener Hof rund um Außenminister und Staatskanzler Johann Philipp Graf Stadion setzte bei Kaiser Franz II./I. 1809 einen Angriffskrieg durch. Die Zeit erschien einerseits günstig, da der Kaiser der Franzosen in den Spanischen Unabhängigkeitskrieg verwickelt war, andererseits drängte sie: In Wien fürchtete man, dass sich Napoleon nach dem erwarteten Sieg über die Spanier auf die Habsburgermonarchie stürzen könnte. „Unsere Sache ist gerecht“, hieß es. Der Angriffskrieg wurde zum Verteidigungskrieg gegenüber dem unersättlichen Eroberer deklariert, die Schuld Napoleon zugeschrieben. Auch gegenüber den mit Frankreich verbündeten deutschen Rheinbundstaaten wurde die österreichische Offensive in Bayern als Akt der Notwehr bezeichnet: „Oesterreichs Streitkräfte sind auf den Wink Ihres Monarchen zur Selbstvertheidigung aufgestanden, ich führe sie dem Feinde entgegen, um dem gewissen nahen Angriffe zuvorzukommen“, hieß es in der Proklamation Erzherzog Carls „An die deutsche Nazion“. Die habsburgischen Truppen überschritten „die Gränze nicht als Eroberer, nicht als Feinde Deutschlands“. Nichts anderes wolle Österreich erlangen als einen dauerhaften Frieden. Nach Siegen am süddeutschen Kriegsschauplatz konnte Napoleon den Spieß jedoch rasch umdrehen und rund einen Monat nach Kriegsbeginn Wien besetzen; obwohl Carl bei Aspern siegte, war der Krieg kurz darauf bei Wagram entschieden. Als neuer Mann in der österreichischen Außenpolitik kehrte Metternich zum habsburgischen Motto zurück, wonach sich durch Heirat mehr erreichen ließe als durch Kriege.
Wie real sind also Bedrohungen und mutmaßliche Provokationen der Gegenseite? Wie glaubwürdig sind Schuldzuweisungen, wie stichhaltig Beweise? Das ist die brisante Frage. Die militärischen Führungen aller Lager versuchen, durch aktive wie restriktive Propaganda Einfluss auf die mediale Berichterstattung zu nehmen und unser Bild vom Krieg zu beeinflussen. Vermittelt werden soll: Wir sind die Guten, die anderen die Bösen. So griff im Afghanistankrieg die Sicherheitsberaterin des damaligen USPräsidenten George W. Bush, Condoleezza Rice, laut „Financial Times“selbst zum Telefon, um die Leitenden der wichtigsten US-Fernsehsender an ihre „patriotische Pflicht“zu erinnern.
Keine Frage, grade in eskalierenden Konflikten wären kritische, unabhängige Medien wichtiger denn je, die Hintergründe aufdecken und sich kein X für ein U vormachen lassen. Niemand wird aber die Staatsbürger aus ihrer Pflicht entlassen können, kritisch zu bleiben, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und sich nicht in einen Krieg treiben zu lassen, den am Ende keiner gewollt haben will.