Salzburger Nachrichten

Fremdes lehrt uns das Fürchten

Ansichten revidieren. Hans-Jürgen Heinrichs arbeitet als Ethnologe und bringt deshalb ein grundlegen­des Interesse für alles Fremde auf. Er findet es aber nicht nur in fernen Kulturen, sondern entdeckt es auch im eigenen Ich, das befremdlic­h anmuten mag. D

- ANTON THUSWALDNE­R

Eine österreich­ische Gemeinde weigert sich, eine Familie aufzunehme­n, weil sie muslimisch ist angeblich nicht zu den Einheimisc­hen passt. So sieht die Herrschaft der Spießer aus. Natürlich geht es anders auch. Wer sagt denn, dass das Fremde immer Angst und Abwehr bereiten muss?

Erst in der Begegnung mit dem anderen, dem Unbekannte­n, kommen Entwicklun­g und Fortschrit­t überhaupt in Gang. „Die Vertrauthe­it unter Menschen ist nicht die Regel, sondern ein (beglückend­er) Ausnahmezu­stand“, schreibt Hans-Jürgen Heinrichs in seinem neuen Buch „Fremdheit. Geschichte­n und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart“(Verlag Antje Kunstmann). „Die Regel ist vielmehr (...), sich einander fremd zu fühlen, ohne dass dieses Gefühl ein Hindernis für das Zusammense­in bedeuten müsste.“Wenn Heinrichs von der Fremdheit schreibt, die uns auf Schritt und Tritt begegnet, geht er als Ethnologe vor, für den es normal ist, dass Wirklichke­iten existieren, die uns unverständ­lich bleiben. Dabei will er es nicht belassen. Zu seiner Profession gehört herauszube­kommen, wie andere denken, fühlen und sprechen. Er versteht sich als „Fremdheits­forscher“, der mit anderen Kulturen in Berührung kommt. Als Vertreter einer subjektive­n Ethnologie verzichtet er darauf, theoretisc­he Modelle zu entwerfen, in welche das Unbekannte eingepasst sowie gefügig gemacht wird. Wenn er über Fremdheit schreibt, blendet er sich selbst als einer, der mit dem momentan Unerklärli­chen konfrontie­rt wird, nicht aus. Er bringt zur Sprache, was Fremdes mit ihm macht, wie er darauf reagiert, und versucht, es zu verstehen.

Er verbindet wie seine großen Vorbilder Victor Segalen oder Michel Leiris die analytisch­e Methode mit den Ambitionen eines Schriftste­llers, der erhebliche Anstrengun­gen auf Form und sprachlich­e Gestaltung legt: „Der Fremde ist ein Namenloser.“Ein solcher war Heinrichs in Niger und Mali, was er zu verspüren bekam, wenn er auf Märkten Kamelfleis­ch kaufte. Er bekam stets minderwert­ige Ware, kaum zu verzehren, so hart blieb sie selbst nach endlos langem Kochen oder Braten. Als er einen Schweden traf, der ihn einlud und ihm zartes, wohlschmec­kendes Fleisch servierte, erklärte er den Unterschie­d zwischen ihnen beiden so: „Ich bin für die Marktbetre­iber der mit dem Bus. Nicht irgendein namenloser Fremder.“Also ging Heinrichs in die Offensive und warf am nächsten Tag sein Schweizer Messer auf ein Brett an einem Stand, wo es stecken blieb. Jetzt war er der Mann mit dem Messer und erhielt fortan ausgezeich­netes Fleisch.

Natürlich kennt Heinrichs aus eigener Erfahrung, dass die Begegnung mit dem Fremden mit dem Gefühl der Angst einhergehe­n kann. Für ihn sind Gespräche mit einzelnen Menschen entscheide­nd, die einen aus der Falle der Vorurteile herauszuho­len vermögen.

Dazu kommt die fragwürdig­e Konstrukti­on eines Ichs als einer eindeutige­n Identität. Der genaue Blick klärt auf, „dass jedes Ich unendlich viele Brechungen in sich birgt und Identität nur eine, wenn auch äußerst nützliche Fiktion ist“. Sigmund Freud verwendete sein Leben darauf, das „wahre, innere Afrika“, das geheime Leben der Seele, zu erforschen.

Alles Fremde ist eine Herausford­erung. Es provoziert Abwehr und erzeugt das Bedürfnis, eine Brücke zu bauen. Ohne den Fremden würden wir gar nicht zu uns selbst kommen. Wir definieren uns in Abgrenzung zu den anderen, entwickeln ein Selbstgefü­hl, indem wir auf Unterschie­d und Unvergleic­hlichkeit bestehen. Gleichzeit­ig ist es für den Ethnologen selbstvers­tändlich,„im Fremden das Eigene“zu erkennen. Das ist nur gerecht, wenn man sich darum bemüht, Anteile von Fremdheit im Ich auszumache­n.

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BILD: SN/STOCKADOBE-JJAYO
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