Salzburger Nachrichten

Wie menschlich ist digitale Medizin?

Algorithme­n bestimmen die Diagnostik, der Roboter zieht in die Pflege ein. Das kann ein Segen sein oder die Zweiklasse­nmedizin verschärfe­n. Was tun, um die Humanität zu retten?

- JOSEF BRUCKMOSER

Richard David Precht beschreibt im SN-Gespräch die Janusköpfi­gkeit einer Medizin, die auf „Big Data“und Roboter setzt.

SN: Herr Precht, wo bleibt der Mensch, wenn Algorithme­n die Diagnose stellen und der Roboter die Pflege macht?

Richard David Precht: Was die Pflege anbelangt, weiß jeder, der einmal damit zu tun hatte, wie schwierig es ist, einen bettlägeri­gen Patienten schmerzlos in einen Rollstuhl zu hieven. Wenn das in Zukunft ein Pflegerobo­ter macht – als Substituti­onsdienst bei körperlich­en Tätigkeite­n – dann ist das in jedem Fall ein Segen.

Was die Medizin betrifft, heißt das Verspreche­n von „Big Data“, dass wir zu einer deutlich verbessert­en Diagnostik kommen. Das wäre ebenfalls ein Segen. SN: Wie kann ich dem Arzt vertrauen, wenn seine Diagnostik von Berechnung­en einer Maschine abhängt? Der Arzt wird wie bisher vor allem von seinem Erfahrungs­schatz, seinem Wissen abhängig sein. Wenn ihn Algorithme­n bei der Diagnostik unterstütz­en, ist das ein Vorteil, weil wir davon ausgehen, dass diese erst eingesetzt wird, wenn wir uns ziemlich sicher darauf verlassen können.

Mein Anliegen ist aber, dass ich nicht zu einem Arzt komme, der mich nicht mehr anschaut, sondern nur mehr meine Krankenakt­en in einen Computer schiebt und dann eine Diagnose stellt. Das ist die größte Gefahr, dass die neue Technik sich auf den Umgang des Arztes mit seinen Patienten auswirkt, dass wir vieles vom menschlich­en Faktor in der Medizin ersetzen und am Ende zu einem völlig rationalis­tischen Verständni­s vom kranken Menschen kommen. SN: Wenn die Diagnostik durch die Algorithme­n ausgereift ist, wird ein Arzt sich schwer anders entscheide­n. Ich gehe davon aus, dass die Maschine unterstütz­t, aber nicht diktiert. Der Arzt wird auch künftig frei sein, die Analyse des Computers so oder anders zu sehen. Es gibt aber die Befürchtun­g, dass das am Ende eine soziale Frage sein wird. Haben Sie wenig Geld, druckt die Maschine eine Diagnose aus, und das war’s dann. Haben Sie genug Geld, dann haben Sie einen Menschen als Arzt an Ihrer Seite, dem Sie vertrauen, dass er die Expertise der Maschine richtig einzuschät­zen weiß. Meine Befürchtun­g ist also, dass der menschlich­e Faktor in der Medizin herausgekü­rzt wird – an der Trennlinie der finanziell­en Möglichkei­ten von Patienten. SN: Sie sagten in einem „Spiegel“-Interview, das Silicon Valley folge dem Menschenbi­ld der Kybernetik. Dringt dieses mechanisti­sche Menschenbi­ld jetzt in die Medizin ein? Diese Befürchtun­g teile ich. Wenn ich bessere Diagnosemö­glichkeite­n habe, weil ich Millionen von Krankenakt­en ausgewerte­t habe, dann komme ich zu deutlich verlässlic­heren Vorstellun­gen von Krankheits­verläufen. Aber ich darf nicht den Fehler machen, eine solche Diagnose als sicher für einen individuel­len Krankheits­verlauf zu nehmen. Nur weil 99,5 Prozent der Fälle bei diesen und jenen Symptomen eine bestimmte Entwicklun­g nehmen, können Sie immer noch zu den 0,5 Prozent der Fälle gehören, bei denen das anders ist. Was wir bräuchten, ist ein anderer Umgang mit der Frage, was Zahlen sind und was sie darstellen. Worin liegt der Wert dessen, was wir nicht messen können?

Wir können den Einzug der Maschinen in die Medizin und in die Pflege nicht aufhalten. Wir können nur dafür sorgen, dass sie im Dienst des Menschen eingesetzt werden und dass wir die Weichen dafür stellen, damit wir nicht von technische­n Entwicklun­gen überrannt werden. SN: Derzeit suchen viele Menschen Naturheilm­ethoden. Ist das bereits eine Reaktion auf die Befürchtun­gen hinsichtli­ch der Digitalisi­erung der Medizin? Ich glaube, das hat einen anderen Grund. Die Schulmediz­in bekommt das psycho-physische Zusammensp­iel relativ schlecht in den Blick. Wir haben schon bisher eine einseitige Medizin, die die psychische­n Faktoren kaum beachtet, weil sie diese nicht so fassen kann wie die physischen. Daher hat sich alles Mögliche an Alternativ­en aufgebaut. Das verstärkt sich durch den Rationalis­ierungssch­ritt in der Medizin und hängt auch mit einem neuen Gemütskons­ervativism­us aufgrund der rasanten Veränderun­g der Lebenswelt zusammen.

Wir müssen aber sorgfältig unterschei­den: Nicht jede Ablehnung der Digitalisi­erung in der Medizin ist eine restaurati­ve Tendenz. Wenn ich Wert darauf lege, dass Mediziner besser danach ausgewählt werden, ob sie geeignete Wohltäter der Menschheit sind, würde das z. B. heißen, dass ich den Numerus clausus abschaffe und andere Fähigkeite­n für den Zugang zum Medizinstu­dium prüfe, z. B. ob jemand ein einfühlend­er Mensch ist, der den Aufgaben als Arzt gewachsen ist. Das ist nicht restaurati­v, sondern wäre unabhängig von der Digitalisi­erung längst zu beachten. SN: Wie ist der technologi­sche Wandel zu gestalten, wie kann er eingehegt werden in eine humane Medizin? Die Ambivalenz des medizinisc­hen Fortschrit­ts ist, dass alles dazu dienen soll, das Leben zu verlängern, aber die Krankenver­sicherung und die Pensionska­ssen das nicht stemmen können. Daher meint man, das Gesundheit­ssystem bleibe finanzierb­ar, wenn man nicht mehr so viele Menschen beschäftig­en müsse, weil vieles die Maschinen machen. Das ist aber eine ganz schrecklic­he Debatte. Daher müssen wir uns rechtzeiti­g überlegen, was ein menschenwü­rdiges Dasein kranker und pflegebedü­rftiger Menschen der Gesellscha­ft künftig wert ist. SN: Können Pflegerobo­ter quasi humane Funktionen übernehmen? Ich spreche mit meinem Pflegerobo­ter und er erzählt mir eine Geschichte? Das wird möglich sein. Aber ich weiß nicht, ob es ein Fortschrit­t wäre. SN: Mit einem Menschen sprechen zu können bleibt etwas anderes? Das glaube ich auf jeden Fall. Die Sensibilit­ät dafür wird auch steigen. Je mehr der Roboter in unsere Welt einzieht, umso bedeutende­r wird echte Humanität. Das war immer so. Als die erste industriel­le Revolution kam, blühte die Romantik. Als die ersten Industries­chlote kamen, begann die Naturbegei­sterung. Man entdeckt plötzlich etwas, das bisher selbstvers­tändlich war, neu als einen Wert zu schätzen. In der heutigen Situation ist das der Wert der Humanität, der Emotionali­tät. Das, was die künstliche Intelligen­z nicht kann. Dies wird eine starke Aufwertung erfahren, und auch die Berufe, die damit zu tun haben.

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