Wie menschlich ist digitale Medizin?
Algorithmen bestimmen die Diagnostik, der Roboter zieht in die Pflege ein. Das kann ein Segen sein oder die Zweiklassenmedizin verschärfen. Was tun, um die Humanität zu retten?
Richard David Precht beschreibt im SN-Gespräch die Janusköpfigkeit einer Medizin, die auf „Big Data“und Roboter setzt.
SN: Herr Precht, wo bleibt der Mensch, wenn Algorithmen die Diagnose stellen und der Roboter die Pflege macht?
Richard David Precht: Was die Pflege anbelangt, weiß jeder, der einmal damit zu tun hatte, wie schwierig es ist, einen bettlägerigen Patienten schmerzlos in einen Rollstuhl zu hieven. Wenn das in Zukunft ein Pflegeroboter macht – als Substitutionsdienst bei körperlichen Tätigkeiten – dann ist das in jedem Fall ein Segen.
Was die Medizin betrifft, heißt das Versprechen von „Big Data“, dass wir zu einer deutlich verbesserten Diagnostik kommen. Das wäre ebenfalls ein Segen. SN: Wie kann ich dem Arzt vertrauen, wenn seine Diagnostik von Berechnungen einer Maschine abhängt? Der Arzt wird wie bisher vor allem von seinem Erfahrungsschatz, seinem Wissen abhängig sein. Wenn ihn Algorithmen bei der Diagnostik unterstützen, ist das ein Vorteil, weil wir davon ausgehen, dass diese erst eingesetzt wird, wenn wir uns ziemlich sicher darauf verlassen können.
Mein Anliegen ist aber, dass ich nicht zu einem Arzt komme, der mich nicht mehr anschaut, sondern nur mehr meine Krankenakten in einen Computer schiebt und dann eine Diagnose stellt. Das ist die größte Gefahr, dass die neue Technik sich auf den Umgang des Arztes mit seinen Patienten auswirkt, dass wir vieles vom menschlichen Faktor in der Medizin ersetzen und am Ende zu einem völlig rationalistischen Verständnis vom kranken Menschen kommen. SN: Wenn die Diagnostik durch die Algorithmen ausgereift ist, wird ein Arzt sich schwer anders entscheiden. Ich gehe davon aus, dass die Maschine unterstützt, aber nicht diktiert. Der Arzt wird auch künftig frei sein, die Analyse des Computers so oder anders zu sehen. Es gibt aber die Befürchtung, dass das am Ende eine soziale Frage sein wird. Haben Sie wenig Geld, druckt die Maschine eine Diagnose aus, und das war’s dann. Haben Sie genug Geld, dann haben Sie einen Menschen als Arzt an Ihrer Seite, dem Sie vertrauen, dass er die Expertise der Maschine richtig einzuschätzen weiß. Meine Befürchtung ist also, dass der menschliche Faktor in der Medizin herausgekürzt wird – an der Trennlinie der finanziellen Möglichkeiten von Patienten. SN: Sie sagten in einem „Spiegel“-Interview, das Silicon Valley folge dem Menschenbild der Kybernetik. Dringt dieses mechanistische Menschenbild jetzt in die Medizin ein? Diese Befürchtung teile ich. Wenn ich bessere Diagnosemöglichkeiten habe, weil ich Millionen von Krankenakten ausgewertet habe, dann komme ich zu deutlich verlässlicheren Vorstellungen von Krankheitsverläufen. Aber ich darf nicht den Fehler machen, eine solche Diagnose als sicher für einen individuellen Krankheitsverlauf zu nehmen. Nur weil 99,5 Prozent der Fälle bei diesen und jenen Symptomen eine bestimmte Entwicklung nehmen, können Sie immer noch zu den 0,5 Prozent der Fälle gehören, bei denen das anders ist. Was wir bräuchten, ist ein anderer Umgang mit der Frage, was Zahlen sind und was sie darstellen. Worin liegt der Wert dessen, was wir nicht messen können?
Wir können den Einzug der Maschinen in die Medizin und in die Pflege nicht aufhalten. Wir können nur dafür sorgen, dass sie im Dienst des Menschen eingesetzt werden und dass wir die Weichen dafür stellen, damit wir nicht von technischen Entwicklungen überrannt werden. SN: Derzeit suchen viele Menschen Naturheilmethoden. Ist das bereits eine Reaktion auf die Befürchtungen hinsichtlich der Digitalisierung der Medizin? Ich glaube, das hat einen anderen Grund. Die Schulmedizin bekommt das psycho-physische Zusammenspiel relativ schlecht in den Blick. Wir haben schon bisher eine einseitige Medizin, die die psychischen Faktoren kaum beachtet, weil sie diese nicht so fassen kann wie die physischen. Daher hat sich alles Mögliche an Alternativen aufgebaut. Das verstärkt sich durch den Rationalisierungsschritt in der Medizin und hängt auch mit einem neuen Gemütskonservativismus aufgrund der rasanten Veränderung der Lebenswelt zusammen.
Wir müssen aber sorgfältig unterscheiden: Nicht jede Ablehnung der Digitalisierung in der Medizin ist eine restaurative Tendenz. Wenn ich Wert darauf lege, dass Mediziner besser danach ausgewählt werden, ob sie geeignete Wohltäter der Menschheit sind, würde das z. B. heißen, dass ich den Numerus clausus abschaffe und andere Fähigkeiten für den Zugang zum Medizinstudium prüfe, z. B. ob jemand ein einfühlender Mensch ist, der den Aufgaben als Arzt gewachsen ist. Das ist nicht restaurativ, sondern wäre unabhängig von der Digitalisierung längst zu beachten. SN: Wie ist der technologische Wandel zu gestalten, wie kann er eingehegt werden in eine humane Medizin? Die Ambivalenz des medizinischen Fortschritts ist, dass alles dazu dienen soll, das Leben zu verlängern, aber die Krankenversicherung und die Pensionskassen das nicht stemmen können. Daher meint man, das Gesundheitssystem bleibe finanzierbar, wenn man nicht mehr so viele Menschen beschäftigen müsse, weil vieles die Maschinen machen. Das ist aber eine ganz schreckliche Debatte. Daher müssen wir uns rechtzeitig überlegen, was ein menschenwürdiges Dasein kranker und pflegebedürftiger Menschen der Gesellschaft künftig wert ist. SN: Können Pflegeroboter quasi humane Funktionen übernehmen? Ich spreche mit meinem Pflegeroboter und er erzählt mir eine Geschichte? Das wird möglich sein. Aber ich weiß nicht, ob es ein Fortschritt wäre. SN: Mit einem Menschen sprechen zu können bleibt etwas anderes? Das glaube ich auf jeden Fall. Die Sensibilität dafür wird auch steigen. Je mehr der Roboter in unsere Welt einzieht, umso bedeutender wird echte Humanität. Das war immer so. Als die erste industrielle Revolution kam, blühte die Romantik. Als die ersten Industrieschlote kamen, begann die Naturbegeisterung. Man entdeckt plötzlich etwas, das bisher selbstverständlich war, neu als einen Wert zu schätzen. In der heutigen Situation ist das der Wert der Humanität, der Emotionalität. Das, was die künstliche Intelligenz nicht kann. Dies wird eine starke Aufwertung erfahren, und auch die Berufe, die damit zu tun haben.