Ein Wald zwischen Büchern
Es wuchert in der Bibliothek. Der französische Präsident François Mitterrand hatte 1989 eine Vision.
Cicero hätte hier sein Glück gefunden. „Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen“, schrieb der römische Konsul in einem seiner Briefe an seinen Freund Varro. Mehr als 2000 Jahre später haben die Besucher der französischen Nationalbibliothek François Mitterrand in Paris, kurz BNF, beides: Millionen Bücher um sie herum – und einen üppigen Garten vor ihren Augen. Betreten können sie ihn nicht, weder die Düfte der Pflanzen riechen noch das Gezwitscher der Vögel hören. Meterhohe Glasscheiben eröffnen ihnen aber von allen Lesesälen aus einen Blick auf den dschungelhaften Wald von mehr als einem Hektar Größe im Herzen der Bibliothek im Südosten von Paris. „Es ist natürlich frustrierend, diese Pracht zu sehen und sie nicht betreten zu dürfen“, sagt Marie James, die Bibliotheksführungen anbietet. Das Zutrittsverbot diene einerseits dem Schutz des Ökosystems, andererseits wolle man verhindern, dass Besucher an ihren Schuhen oder der Kleidung Pollen an den Ort tragen, in dem wertvolle, alte Bücher lagern. Nur an einem Wochenende im Juni darf die Öffentlichkeit den Rundweg um die Waldfläche betreten. „Im vergangenen Jahr kamen rund 1000 Leute, das Interesse ist riesig“, erzählt James. Dass die Menschen dabei zahlreiche Schneckenhäuser unter ihren Sohlen knirschend zertraten, habe ihr allerdings in den Ohren und in der Seele wehgetan. Die Idee vom Garten als einem zentralen, meditativen Ruhepol ähnlich dem eines Klosters, umbaut von vier mächtigen Eckpfeilern, die die BNF einzäunen, stammt vom Architekten Dominique Perrault. Auch dank dieses Entwurfs stach der damals 36Jährige bei der internationalen Ausschreibung unter 230 Bewerbern heraus, die 1989 unter Präsident François Mitterrand lanciert wurde. Perrault spielte auch auf Wandmalereien mit Bäumen an, die in einem besonders prächtigen Saal in einem älteren Standort der Nationalbibliothek im Zentrum von Paris waren.
Die dortigen Bedingungen der Konservierung galten allerdings als unzureichend, auch wurden die Räumlichkeiten allmählich zu eng. Denn laut einem Gesetz aus der Zeit von König Franz I. Anfang des 16. Jahrhunderts muss der Staat von jedem in Frankreich gedruckten Buch ein Exemplar besitzen: Inzwischen sind es 40 Millionen Bücher, auf vier Gebäude verteilt, davon die Hälfte in der Nationalbibliothek mit ihren vier Büchertürmen und den Regalen mit einer Gesamtlänge von 400 Kilometern.
Um also vor allem die alte Bibliothek in der Rue Richelieu zu entlasten, kündigte Präsident Mitterrand kurz nach seiner Wiederwahl in seiner Fernsehansprache am Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1988, den Bau „einer der größten und modernsten Bibliotheken der Welt“am Ufer der Seine an. Es sollte das letzte Architekturprojekt unter dem sozialistischen Staatschef werden, einem leidenschaftlichen Liebhaber von Kunst und Literatur, auf den unter anderem die Bastille-Oper und die Glaspyramide am Louvre zurückgehen. Da seine Krebserkrankung bekannt war, wurden die Arbeiten des Gebäudes aus Metall, Beton und Glas beschleunigt, damit er am 30. März 1995 „seine“ Bibliothek einweihen konnte. Nach Mitterrand benannt wurde sie aber erst nach seinem Tod 1996 und unter seinem Nachfolger Jacques Chirac.
Da man im Garten von Anfang an ausgewachsene Bäume sehen wollte, wurden 126 Waldkiefern aus der Normandie umgesiedelt. „Sie sind schmal und haben wenig Blätterwerk, um nicht zu viel Schatten zu werfen“, erklärt Marie James. Inzwischen sind auch die neu gepflanzten Bäume groß geworden; zwischen Weißbuchen und Birken ranken sich Farn und Buschwerk, Lebensraum für eine Vielzahl an Vögeln, Insekten und Schmetterlingen.
Völlig sich selbst wird die Natur allerdings nicht überlassen: Weil im Sommer, wenn die Sonne auf die Glaswände brennt, große Hitze herrscht, sind automatische Wassersprenger aufgestellt. Damit Efeu und wildes Brombeergestrüpp nicht überhandnehmen, dürfen in diesem Jahr zum zweiten Mal in Folge Ziegen im Wald weiden.
Und als zu viele Tauben kamen, siedelte man ein Sperber-Pärchen an, das das Problem regelte und inzwischen Nachwuchs bekommen hat. Gegen die Ansiedlung von Hausbienen hat man sich entschieden, um den Raum Wildbienen zu überlassen.
Die Einzigen, die regelmäßigen Zugang zum Wald haben, sind zwei Gärtner. Nach einem großen Sturm, der viele Bäume umriss, befestigten sie diese mit Kabeln. Auch räumen sie regelmäßig die Pizzakartons und Getränkedosen weg, die vom Vorplatz nach unten geworfen werden von Unbedachten, die nichts zu wissen scheinen von diesem geschützten, ganz besonders ruhigen Ort, dieser Oase mitten im lauten Paris.