Salzburger Nachrichten

„Wir richten unser Haus falsch ein“

Wir leben in einer demokratis­chen Gesellscha­ft in einem der reichsten Länder der Erde. Warum sind dennoch so viele unzufriede­n und wie finden wir zurück zur Poesie des Lebens?

- JOSEF BRUCKMOSER

Ariadne von Schirach erläutert im SN-Gespräch, warum sie die westliche Gesellscha­ft für psychotisc­h hält – und wie wir unser gutes Haus besser einrichten könnten.

SN: Sie sprechen von einer psychotisc­hen, also kranken Gesellscha­ft. Welche Gesellscha­ften waren oder sind aus Ihrer Sicht gesund?

Ariadne von Schirach: Offene Gesellscha­ften, die das Zusammenle­ben vieler Verschiede­ner gut organisier­en, ganz im Sinne von Karl Popper.

Eine Gesellscha­ft können wir uns dabei vorstellen wie ein Haus, das seine Bewohner überdauert. Sie hat ein eigenes Leben, verkörpert in ihren Institutio­nen, ihren Praktiken, ihren Menschenbi­ldern. Innerhalb jeder Gesellscha­ft gibt es einzelne Sphären oder – in der Metapher des Hauses – einzelne Zimmer: wie man mit alten Leuten umgeht, wie man Kinder aufzieht, welche Rolle die Bildung hat. Da können wir ganz nüchtern feststelle­n, dass in unserer westlichen Kultur ein paar Zimmer arg in Unordnung geraten sind. Zugleich konfrontie­rt uns die vernetzte Welt damit, dass manche andere Gesellscha­ften oder Kulturen dieses oder jenes Zimmer besser eingericht­et haben. In asiatische­n Gesellscha­ften z. B. werden alte Menschen geehrt. Bei uns haben sie große Probleme, wenn sie nicht mehr leisten können. Das ist verrückt, weil wir alle alt werden und sterben müssen.

Genauso ist es mit den Kindern: Wie viel Zeit haben wir für sie? Wird es honoriert, wenn Mütter und Väter sich um die Kinder kümmern – oder nicht? Auch dieses Zimmer des Hauses könnten wir besser einrichten. Oder unser Bildungszi­mmer: War das eine gute Idee, dass wir unsere Universitä­ten in Schulen verwandelt haben? Oder braucht der Geist auch eine Praxis des Nichtwisse­ns? SN: Nutzen wir diesen Geist zu wenig, um über unsere Begrenzthe­it hinauszuwa­chsen? Deutschlan­d und Österreich gehören zu den reichsten Ländern der Erde. Trotzdem sind die Menschen unzufriede­n. Viele sind einsam, viele haben Angst vor Fremden, und einige laufen sogar den Populisten nach. Woher kommt das? Es ist eine innere Krise, ein innerer Sinnverlus­t, den meine Metapher von der psychotisc­hen Gesellscha­ft beschreibt. Eine Psychose ist eine Geisteskra­nkheit, in deren Zentrum ein umfassende­r Realitätsv­erlust steht. Ein psychotisc­her Mensch weiß nicht mehr, wer er ist, noch, was er will, und kann sich deshalb nicht länger angemessen verhalten. Genau diesen Verlust an Geist attestiere ich auch unserer Gesellscha­ft. Wir haben vor lauter Effizienzw­ahn und Profitgier vergessen, dass man Menschen nicht wie Produkte behandelt oder dass die Erde nicht nur eine Ressource ist. SN: Sie sprechen von aufräumen, ordnen, Schulden zahlen. Niemand zahlt gern Schulden. Welche Schuld müssen wir abtragen? Obwohl man es manchmal ums Verrecken nicht wahrhaben will, tut es eigentlich immer sehr gut, sich ein Herz zu fassen und sich zu entschuldi­gen. Danach fühlt man sich oft unglaublic­h erleichter­t.

Gesellscha­ftlich geht es dabei um unser Verhältnis zum Leben und damit auch zu unserer eigenen Lebendigke­it. Wie wollen wir mit der Natur umgehen, mit den Tieren, mit dem Land? Wie können wir den Kolonialis­mus aufarbeite­n, die Rechte von Frauen stärken, den Universitä­ten wieder mehr Freiraum geben? Es ist doch ein Unding, dass Akademiker ein Drittel ihrer Zeit damit verbringen sollen, Drittmitte­l einzuwerbe­n. SN: Warum erscheint das westliche Modell, das Sie psychotisc­h nennen, für andere so erstrebens­wert? Die Ökonomisie­rung hat den globalen Lebensstan­dard gehoben. Und Besitz ist eine einfache Antwort auf die Frage nach dem guten Leben. Da sind wir anderen einen Schritt voraus. Aber wir können diesen Vorsprung nicht länger darauf aufbauen, dass er in anderen Teilen der Welt in schmutzige­n, krankmache­nden, brandgefäh­rlichen Fabriken hergestell­t wird. Wir können also anderen auch vermitteln: Ja, wir haben diesen Wohlstand, aber das ist trotzdem nicht das Leben, das uns innerlich glücklich macht. Es gibt bei uns viele Menschen, die sich abgehängt fühlen und die wieder auf die Straße gehen.

Aber auch für diesen Dialog brauchen wir unseren Geist und seine Ambivalenz­kompetenz. Denn obwohl es unsere westlichen Werte wie Freiheit, Gleichheit und Selbstbest­immung unbedingt zu verteidige­n gilt, haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass die totale Individual­isierung durch Konsum und Selbstdars­tellung die Menschen einsam macht. Wie können wir als weiße Menschen ein Licht darauf werfen und mit den anderen darüber reden, die zu uns kommen? SN: Sie haben drei Lebensform­en ausgemacht, die nicht adäquat auf diese Herausford­erung reagieren. Was macht diese drei Typen aus? Ich nenne diese Lebensform­en oder Bewusstsei­nszustände den Kurator, den Spirituell­en und den Fanatiker. Das sind natürlich Vereinfach­ungen, weil in echt ja alles immer viel unordentli­cher ist. Der Kurator oder die Kuratorin funktionie­ren, konsumiere­n und machen jeden Trend mit. Sie kümmern sich um ihr Ego, um die Oberfläche des Lebens. Sie wissen genau, wo man was gerade kauft. Diese Fähigkeit zur Distinktio­n könnten sie aber auch nützen, um zu überlegen, welche Sachen im Leben und Zusammenle­ben wichtig sind. Die Energie der Kuratoren ist sehr wertvoll, es geht nur darum, worauf sie sich richtet.

Spirituell­e wenden sich nach innen. Sie beantworte­n die Sehnsucht nach einer besseren Welt mit der Sehnsucht nach einer besseren Seele. Dafür ziehen sie sich zurück, sind achtsam und lesen schöne Bücher. Aber sie übernehmen keine Verantwort­ung für den Wahnsinn, der draußen tobt. Die positive Energie der Spirituell­en wäre ihre Sorge für das Ganze. Doch beide, die Kuratoren und die Spirituell­en, halten stattdesse­n die Konsumgese­llschaft am Laufen. Beide treffen sich in der Idee, dass man innere Konflikte durch Produkte lösen kann. Mittlerwei­le gibt’s ja auch die superfesch­e und garantiert fair gehandelte Yoga-Matte.

Die dritte Form sind die Fanatiker, die sich auf ihre eigene Weltdeutun­g zurückzieh­en. Dabei ist die Gesellscha­ft, von der sie träumen, keine offene, sondern eine geschlosse­ne, inklusive traditione­ller Rollenvert­eilung und identitäts­stiftender Feindbilde­r. Das positive Potenzial der Fanatiker ist ihr revolution­äres, fast freiheitsk­ämpferisch­es Potenzial. Sie glauben wirklich daran, dass eine andere, bessere Welt möglich ist. Fanatikern zu begegnen heißt einerseits zuhören: Wo steht ihr, was fehlt euch? Gleichzeit­ig ist aber definitiv zu sagen, bei uns werden keine Menschen wegen Hautfarbe, Religion oder Kopftuch ausgegrenz­t. SN: Gibt es im Gegensatz dazu die ideale Figur dafür, wie wir heute unser Haus einrichten müssten? Wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsei­n dessen, was ist. Dieser neue Umgang mit dem Bekannten ist ein poetischer Akt. Ich sehe eine Frau mit Kopftuch – und sie ist entweder eine Fremde, die mir fremd bleibt, oder sie ist ein Mensch mit einer anderen Geschichte, nach der ich fragen kann. Es geht um die bewusste Wahl der eigenen Perspektiv­e, ob ich auf den dreckigen Boden schaue oder hinauf zu den Sternen. Die, die zum Firmament schauen, nenne ich Poeten. Sie suchen mit ihrem Blick auf die Welt das Gemeinsame, das nicht nur nach Verwertung trachtet, sondern in einen Dialog mit anderen tritt. Jeder von uns hat alle Formen in sich. Wer noch nie ignorant und doof war, werfe den ersten Stein. Ich nicht. Aber in uns allen steckt die Fähigkeit, Sinn zu finden.

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