„Wir richten unser Haus falsch ein“
Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft in einem der reichsten Länder der Erde. Warum sind dennoch so viele unzufrieden und wie finden wir zurück zur Poesie des Lebens?
Ariadne von Schirach erläutert im SN-Gespräch, warum sie die westliche Gesellschaft für psychotisch hält – und wie wir unser gutes Haus besser einrichten könnten.
SN: Sie sprechen von einer psychotischen, also kranken Gesellschaft. Welche Gesellschaften waren oder sind aus Ihrer Sicht gesund?
Ariadne von Schirach: Offene Gesellschaften, die das Zusammenleben vieler Verschiedener gut organisieren, ganz im Sinne von Karl Popper.
Eine Gesellschaft können wir uns dabei vorstellen wie ein Haus, das seine Bewohner überdauert. Sie hat ein eigenes Leben, verkörpert in ihren Institutionen, ihren Praktiken, ihren Menschenbildern. Innerhalb jeder Gesellschaft gibt es einzelne Sphären oder – in der Metapher des Hauses – einzelne Zimmer: wie man mit alten Leuten umgeht, wie man Kinder aufzieht, welche Rolle die Bildung hat. Da können wir ganz nüchtern feststellen, dass in unserer westlichen Kultur ein paar Zimmer arg in Unordnung geraten sind. Zugleich konfrontiert uns die vernetzte Welt damit, dass manche andere Gesellschaften oder Kulturen dieses oder jenes Zimmer besser eingerichtet haben. In asiatischen Gesellschaften z. B. werden alte Menschen geehrt. Bei uns haben sie große Probleme, wenn sie nicht mehr leisten können. Das ist verrückt, weil wir alle alt werden und sterben müssen.
Genauso ist es mit den Kindern: Wie viel Zeit haben wir für sie? Wird es honoriert, wenn Mütter und Väter sich um die Kinder kümmern – oder nicht? Auch dieses Zimmer des Hauses könnten wir besser einrichten. Oder unser Bildungszimmer: War das eine gute Idee, dass wir unsere Universitäten in Schulen verwandelt haben? Oder braucht der Geist auch eine Praxis des Nichtwissens? SN: Nutzen wir diesen Geist zu wenig, um über unsere Begrenztheit hinauszuwachsen? Deutschland und Österreich gehören zu den reichsten Ländern der Erde. Trotzdem sind die Menschen unzufrieden. Viele sind einsam, viele haben Angst vor Fremden, und einige laufen sogar den Populisten nach. Woher kommt das? Es ist eine innere Krise, ein innerer Sinnverlust, den meine Metapher von der psychotischen Gesellschaft beschreibt. Eine Psychose ist eine Geisteskrankheit, in deren Zentrum ein umfassender Realitätsverlust steht. Ein psychotischer Mensch weiß nicht mehr, wer er ist, noch, was er will, und kann sich deshalb nicht länger angemessen verhalten. Genau diesen Verlust an Geist attestiere ich auch unserer Gesellschaft. Wir haben vor lauter Effizienzwahn und Profitgier vergessen, dass man Menschen nicht wie Produkte behandelt oder dass die Erde nicht nur eine Ressource ist. SN: Sie sprechen von aufräumen, ordnen, Schulden zahlen. Niemand zahlt gern Schulden. Welche Schuld müssen wir abtragen? Obwohl man es manchmal ums Verrecken nicht wahrhaben will, tut es eigentlich immer sehr gut, sich ein Herz zu fassen und sich zu entschuldigen. Danach fühlt man sich oft unglaublich erleichtert.
Gesellschaftlich geht es dabei um unser Verhältnis zum Leben und damit auch zu unserer eigenen Lebendigkeit. Wie wollen wir mit der Natur umgehen, mit den Tieren, mit dem Land? Wie können wir den Kolonialismus aufarbeiten, die Rechte von Frauen stärken, den Universitäten wieder mehr Freiraum geben? Es ist doch ein Unding, dass Akademiker ein Drittel ihrer Zeit damit verbringen sollen, Drittmittel einzuwerben. SN: Warum erscheint das westliche Modell, das Sie psychotisch nennen, für andere so erstrebenswert? Die Ökonomisierung hat den globalen Lebensstandard gehoben. Und Besitz ist eine einfache Antwort auf die Frage nach dem guten Leben. Da sind wir anderen einen Schritt voraus. Aber wir können diesen Vorsprung nicht länger darauf aufbauen, dass er in anderen Teilen der Welt in schmutzigen, krankmachenden, brandgefährlichen Fabriken hergestellt wird. Wir können also anderen auch vermitteln: Ja, wir haben diesen Wohlstand, aber das ist trotzdem nicht das Leben, das uns innerlich glücklich macht. Es gibt bei uns viele Menschen, die sich abgehängt fühlen und die wieder auf die Straße gehen.
Aber auch für diesen Dialog brauchen wir unseren Geist und seine Ambivalenzkompetenz. Denn obwohl es unsere westlichen Werte wie Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung unbedingt zu verteidigen gilt, haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass die totale Individualisierung durch Konsum und Selbstdarstellung die Menschen einsam macht. Wie können wir als weiße Menschen ein Licht darauf werfen und mit den anderen darüber reden, die zu uns kommen? SN: Sie haben drei Lebensformen ausgemacht, die nicht adäquat auf diese Herausforderung reagieren. Was macht diese drei Typen aus? Ich nenne diese Lebensformen oder Bewusstseinszustände den Kurator, den Spirituellen und den Fanatiker. Das sind natürlich Vereinfachungen, weil in echt ja alles immer viel unordentlicher ist. Der Kurator oder die Kuratorin funktionieren, konsumieren und machen jeden Trend mit. Sie kümmern sich um ihr Ego, um die Oberfläche des Lebens. Sie wissen genau, wo man was gerade kauft. Diese Fähigkeit zur Distinktion könnten sie aber auch nützen, um zu überlegen, welche Sachen im Leben und Zusammenleben wichtig sind. Die Energie der Kuratoren ist sehr wertvoll, es geht nur darum, worauf sie sich richtet.
Spirituelle wenden sich nach innen. Sie beantworten die Sehnsucht nach einer besseren Welt mit der Sehnsucht nach einer besseren Seele. Dafür ziehen sie sich zurück, sind achtsam und lesen schöne Bücher. Aber sie übernehmen keine Verantwortung für den Wahnsinn, der draußen tobt. Die positive Energie der Spirituellen wäre ihre Sorge für das Ganze. Doch beide, die Kuratoren und die Spirituellen, halten stattdessen die Konsumgesellschaft am Laufen. Beide treffen sich in der Idee, dass man innere Konflikte durch Produkte lösen kann. Mittlerweile gibt’s ja auch die superfesche und garantiert fair gehandelte Yoga-Matte.
Die dritte Form sind die Fanatiker, die sich auf ihre eigene Weltdeutung zurückziehen. Dabei ist die Gesellschaft, von der sie träumen, keine offene, sondern eine geschlossene, inklusive traditioneller Rollenverteilung und identitätsstiftender Feindbilder. Das positive Potenzial der Fanatiker ist ihr revolutionäres, fast freiheitskämpferisches Potenzial. Sie glauben wirklich daran, dass eine andere, bessere Welt möglich ist. Fanatikern zu begegnen heißt einerseits zuhören: Wo steht ihr, was fehlt euch? Gleichzeitig ist aber definitiv zu sagen, bei uns werden keine Menschen wegen Hautfarbe, Religion oder Kopftuch ausgegrenzt. SN: Gibt es im Gegensatz dazu die ideale Figur dafür, wie wir heute unser Haus einrichten müssten? Wir brauchen keine andere Welt, sondern ein anderes Bewusstsein dessen, was ist. Dieser neue Umgang mit dem Bekannten ist ein poetischer Akt. Ich sehe eine Frau mit Kopftuch – und sie ist entweder eine Fremde, die mir fremd bleibt, oder sie ist ein Mensch mit einer anderen Geschichte, nach der ich fragen kann. Es geht um die bewusste Wahl der eigenen Perspektive, ob ich auf den dreckigen Boden schaue oder hinauf zu den Sternen. Die, die zum Firmament schauen, nenne ich Poeten. Sie suchen mit ihrem Blick auf die Welt das Gemeinsame, das nicht nur nach Verwertung trachtet, sondern in einen Dialog mit anderen tritt. Jeder von uns hat alle Formen in sich. Wer noch nie ignorant und doof war, werfe den ersten Stein. Ich nicht. Aber in uns allen steckt die Fähigkeit, Sinn zu finden.