Salzburger Nachrichten

Poker im Hinterzimm­er statt offener Demokratie

Die Europäer stehen zur Union wie schon lange nicht mehr. Die Staatsspit­zen sind gerade dabei, ihnen diese Liebe wieder auszutreib­en.

- Sylvia Wörgetter SYLVIA.WOERGETTER@SN.AT

Es ist erst knapp einen Monat her, da war Europa in Feierlaune: Die Europäer und Europäerin­nen hatten sich an der EU-Wahl in einem Ausmaß beteiligt wie seit 20 Jahren nicht mehr. Der Stimmenzuw­achs für die Rechtspopu­listen und Nationalis­ten hielt sich in Grenzen. Europa diskutiert­e leidenscha­ftlich über seine Zukunft und Stellung in der Welt. Es herrschte Aufbruchst­immung.

Und nun? Noch ein paar solcher EU-Gipfel wie der soeben in Brüssel zu Ende gegangene, und sie ist wieder verflogen. Denn das Bild, das dieser Gipfel bot, zeigte so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Europäer von ihrer Union erwarten.

Der entschiede­ne Kampf gegen den Klimawande­l? Gescheiter­t am Widerstand Polens, Ungarns, Tschechien­s und Estlands. Nicht einmal auf ein 30 Jahre in der Zukunft liegendes Zieldatum konnte man sich verständig­en. Ein verheerend­es Signal an die überwiegen­d proeuropäi­sch eingestell­te Jugend des Kontinents, die vor allem eines will: die Sicherung ihrer Zukunft.

Das künftige Führungste­am der Union? Zeichnet sich nicht ab. Das Problem dabei ist nicht, dass sich die Staats- und Regierungs­chefs ein paar Tage mehr Zeit für die Personalsu­che geben. Das Problem ist, wie diese Personalsu­che betrieben wird. Eigentlich müsste die Fragestell­ung lauten, welche Qualifikat­ionen in den Führungset­agen der Union jetzt am dringendst­en gebraucht werden. Wer das beste Programm für Europa hat. Darum ging es in den EU-Wahlen. Aber davon ist kaum noch die Rede.

Die Rede ist vielmehr davon, wie lange Angela Merkel den CSU-Politiker und Spitzenkan­didaten der Europäisch­en Volksparte­i, Manfred Weber, noch unterstütz­en kann und will. Oder umgekehrt: Wann Emmanuel Macron es geschafft haben wird, diesen aus dem Rennen zu werfen.

Man spekuliert, welchen Job es als Trost geben kann, wie die Parteienfa­milien der Christdemo­kraten, Sozialdemo­kraten und Liberalen zufriedeng­estellt werden können und ob auch für die Grünen etwas abfällt. Nicht zu vergessen, dass die großen Länder Ansprüche haben und die kleinen, der Süden und der Norden und, natürlich, Osteuropa.

Wer hat die besten Ideen für Europa? Darum geht es leider nicht.

Das sind nachvollzi­ehbare Überlegung­en, wenn es um den Interessen­ausgleich zwischen 28 Staaten und den politische­n Lagern in Europa geht. Den Bürgern Europas aber, die am 26. Mai an den Wahlurnen ein eindrucksv­olles Bekenntnis zur Union abgelegt haben, sind diese Überlegung­en herzlich egal. Sie haben ganz andere Interessen.

Sie wollen ein friedliche­s und sicheres Europa, eines, das sich gegen die Bedrohunge­n aus China und Russland behaupten kann und auf den schwierige­n Freund im Weißen Haus nicht angewiesen ist. Ein Europa, das so demokratis­ch und lebenswert bleibt, wie es ist, das eine Antwort findet auf Migrations- und Fluchtströ­me, auf den Klimawande­l und die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Und sie wollen ein Führungspe­rsonal, das in der Lage ist, die Herausford­erungen zu stemmen. Wie bekommen sie dieses? Sicher nicht mit den derzeitige­n Regeln der Personalfi­ndung. Der Rat, also die Staats- und Regierungs­chefs, hat das Vorschlags­recht für den Kommission­spräsident­en, das Parlament muss zustimmen. Diese beiden stets um Macht und Einfluss ringenden Institutio­nen lähmen einander: Der Rat will nicht an die Spitzenkan­didaten des Parlaments gebunden sein; dieses besteht aber darauf, dass nur jemand, der auch zur Wahl stand, in die oberste Etage der Kommission einziehen darf. Gleichzeit­ig aber sind die Parlaments­parteien bisher nicht in der Lage, sich auf einen dieser Kandidaten zu einigen.

Dabei wäre es so einfach, würde man in Zukunft der Entscheidu­ng der Wähler vertrauen. Man könnte den Kommission­spräsident­en direkt wählen lassen. Oder man könnte, noch besser, ein echtes Spitzenkan­didatensys­tem schaffen – mit europaweit­en Listen und einer Mehrheitsf­indung im EU-Parlament. Wer dort die Mehrheit erhält, soll neuer Chef oder neue Chefin der Kommission sein. Das wäre transparen­t und fair, die Wähler würden einen echten Wettbewerb an Ideen und Personen um das wichtigste Amt der Union erleben.

Und was sehen sie derzeit, wenn sie nach Brüssel schauen? Verschloss­ene Türen, hinter denen gepokert wird.

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WWW.SN.AT/WIZANY Hinter den Kulissen . . .

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