Poker im Hinterzimmer statt offener Demokratie
Die Europäer stehen zur Union wie schon lange nicht mehr. Die Staatsspitzen sind gerade dabei, ihnen diese Liebe wieder auszutreiben.
Es ist erst knapp einen Monat her, da war Europa in Feierlaune: Die Europäer und Europäerinnen hatten sich an der EU-Wahl in einem Ausmaß beteiligt wie seit 20 Jahren nicht mehr. Der Stimmenzuwachs für die Rechtspopulisten und Nationalisten hielt sich in Grenzen. Europa diskutierte leidenschaftlich über seine Zukunft und Stellung in der Welt. Es herrschte Aufbruchstimmung.
Und nun? Noch ein paar solcher EU-Gipfel wie der soeben in Brüssel zu Ende gegangene, und sie ist wieder verflogen. Denn das Bild, das dieser Gipfel bot, zeigte so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Europäer von ihrer Union erwarten.
Der entschiedene Kampf gegen den Klimawandel? Gescheitert am Widerstand Polens, Ungarns, Tschechiens und Estlands. Nicht einmal auf ein 30 Jahre in der Zukunft liegendes Zieldatum konnte man sich verständigen. Ein verheerendes Signal an die überwiegend proeuropäisch eingestellte Jugend des Kontinents, die vor allem eines will: die Sicherung ihrer Zukunft.
Das künftige Führungsteam der Union? Zeichnet sich nicht ab. Das Problem dabei ist nicht, dass sich die Staats- und Regierungschefs ein paar Tage mehr Zeit für die Personalsuche geben. Das Problem ist, wie diese Personalsuche betrieben wird. Eigentlich müsste die Fragestellung lauten, welche Qualifikationen in den Führungsetagen der Union jetzt am dringendsten gebraucht werden. Wer das beste Programm für Europa hat. Darum ging es in den EU-Wahlen. Aber davon ist kaum noch die Rede.
Die Rede ist vielmehr davon, wie lange Angela Merkel den CSU-Politiker und Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, noch unterstützen kann und will. Oder umgekehrt: Wann Emmanuel Macron es geschafft haben wird, diesen aus dem Rennen zu werfen.
Man spekuliert, welchen Job es als Trost geben kann, wie die Parteienfamilien der Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen zufriedengestellt werden können und ob auch für die Grünen etwas abfällt. Nicht zu vergessen, dass die großen Länder Ansprüche haben und die kleinen, der Süden und der Norden und, natürlich, Osteuropa.
Wer hat die besten Ideen für Europa? Darum geht es leider nicht.
Das sind nachvollziehbare Überlegungen, wenn es um den Interessenausgleich zwischen 28 Staaten und den politischen Lagern in Europa geht. Den Bürgern Europas aber, die am 26. Mai an den Wahlurnen ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Union abgelegt haben, sind diese Überlegungen herzlich egal. Sie haben ganz andere Interessen.
Sie wollen ein friedliches und sicheres Europa, eines, das sich gegen die Bedrohungen aus China und Russland behaupten kann und auf den schwierigen Freund im Weißen Haus nicht angewiesen ist. Ein Europa, das so demokratisch und lebenswert bleibt, wie es ist, das eine Antwort findet auf Migrations- und Fluchtströme, auf den Klimawandel und die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Und sie wollen ein Führungspersonal, das in der Lage ist, die Herausforderungen zu stemmen. Wie bekommen sie dieses? Sicher nicht mit den derzeitigen Regeln der Personalfindung. Der Rat, also die Staats- und Regierungschefs, hat das Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten, das Parlament muss zustimmen. Diese beiden stets um Macht und Einfluss ringenden Institutionen lähmen einander: Der Rat will nicht an die Spitzenkandidaten des Parlaments gebunden sein; dieses besteht aber darauf, dass nur jemand, der auch zur Wahl stand, in die oberste Etage der Kommission einziehen darf. Gleichzeitig aber sind die Parlamentsparteien bisher nicht in der Lage, sich auf einen dieser Kandidaten zu einigen.
Dabei wäre es so einfach, würde man in Zukunft der Entscheidung der Wähler vertrauen. Man könnte den Kommissionspräsidenten direkt wählen lassen. Oder man könnte, noch besser, ein echtes Spitzenkandidatensystem schaffen – mit europaweiten Listen und einer Mehrheitsfindung im EU-Parlament. Wer dort die Mehrheit erhält, soll neuer Chef oder neue Chefin der Kommission sein. Das wäre transparent und fair, die Wähler würden einen echten Wettbewerb an Ideen und Personen um das wichtigste Amt der Union erleben.
Und was sehen sie derzeit, wenn sie nach Brüssel schauen? Verschlossene Türen, hinter denen gepokert wird.