ÜBERSETZT
Wie kommt ein Salzburger dazu, Litauisch zu lernen? Cornelius Hell beherrscht diese baltische Sprache so gut, dass er jetzt ausgezeichnet wird.
Cornelius Hell beherrscht das Litauische so gut, dass er jetzt als literarischer Übersetzer ausgezeichnet wird.
Als Feuilleton-Chef der Wochenzeitung „Die Furche“von 2002 bis 2008 und seit vielen Jahren als Journalist für den Radiosender Ö1 ist Cornelius Hell eine der wichtigsten literaturkritischen Stimmen Österreichs. Er stammt aus Salzburg – hier geboren, hier studiert, früher Leiter der „Leselampe“und Lehrbeauftragter an der Universität Mozarteum. Am 30. Juni bekommt er den Österreichischen Staatspreis – weder als Kulturjournalist noch als Schriftsteller (wofür ihm die Stadt Wien heuer das Elias-CanettiStipendium zuerkannt hat), auch nicht als Literaturexperte, sondern als literarischer Übersetzer.
SN: Man kennt Sie von vielen „Gedanken für den Tag“in Ö1, als Kritiker und Autor. Wie wichtig ist dazu das Übersetzen? Cornelius Hell: Es begleitet mich seit 1990. Seither gab es kaum ein Jahr, in dem ich nicht aus dem Litauischen übersetzt habe.
SN: Wie kamen Sie dazu? Das Land Salzburg hatte in der Sowjetzeit eine Länderpartnerschaft mit Litauen. Es gab damals einen sehr aktiven Kultur-Hofrat, Peter Krön, der diese mit Leben erfüllen und einen Salzburger Germanisten an die Universität von Vilnius schicken wollte. Die Wahl fiel auf mich, und ich bekam dort eine ausgezeichnete Sprachlehrerin.
SN: Wie schnell haben Sie Litauisch gelernt? Nach einem Jahr konnte ich sprechen und vieles verstehen. Denn es ist dem Lateinischen ähnlich, das hatte ich in der Schule.
In den zwei Jahren, als ich in Vilnius war, herrschten noch SowjetBedingungen: Ich durfte praktisch nicht reisen. Und da ich dort meine erste Frau kennenlernte, traf ich Menschen, die kein Deutsch oder Englisch konnten. So musste ich viel sprechen und dialektales und schnelles Sprechen verstehen. Später habe ich auch journalistisch gearbeitet. So durfte ich für die „Salzburger Nachrichten“1989 den litauischen Parlamentspräsidenten Vytautas Landsbergis interviewen.
SN: Etwa 2,5 Millionen Einwohner Litauens sprechen Litauisch. Gibt es da noch Dialekte? Das ist witzig: Im riesigen Russland spricht man von Petersburg bis Wladiwostok fast gleich. Aber in Litauen gibt es vier Grunddialekte. Am speziellsten und schwierigsten zu verstehen ist Niederlitauisch.
SN: Ist das wie Pinzgauerisch? Nein, eher mit Vorarlbergerisch vergleichbar. Es kommt einer eigenen Sprache nahe.
SN: Ähnelt Litauisch einer Nachbarsprache wie Polnisch oder Russisch? Kaum. Es ist keine slawische, sondern eine baltische Sprache. Es gibt nur einige Lehnwörter.
SN: Wie nah ist das Lettische? Ein wenig, aber Litauer und Letten verstehen einander nicht. Wenn ich mit meinem Litauisch nach Lettland komme, geht es mir ungefähr so wie mit Altgriechisch in Griechenland: Ich kann einige Aufschriften lesen, aber die gesprochene Sprache verstehe ich nicht.
SN: Wie oft sind Sie in Litauen? In der Regel zwei oder drei Mal pro Jahr. Anfang Juni habe ich eine Delegation der Universitäten von Salzburg und Wien hingeführt, heuer im Herbst findet dort der Kongress der Litauisch-Übersetzer statt. Manchmal bin ich zwei bis vier Wochen dort. Ich kenne ja viele Leute, und ich will mich lebendig in der Sprache bewegen und stets die Bücher kennen, die erscheinen.
„Litauisch hat keine Artikel!“Cornelius Hell, Übersetzer
SN: Welche anderen Sprachen können Sie? Englisch natürlich und Ungarisch so, dass ich sprechen und vieles verstehen kann. Aber zum Übersetzen reicht es nicht, weil mein abstrakter Wortschatz zu gering ist.
SN: Was im Litauischen ist schwierig, was ist leicht zu übersetzen? Leicht ist fast nichts. Schwierig ist die unterschiedliche Satzstruktur. Fast jeder Satz muss auf Deutsch mit einem anderen Wort oder Satzteil anfangen. Ist im Litauischen eine Partizipialgruppe vorangestellt, muss ich die umbauen.
SN: Wie zum Beispiel? Wenn es wörtlich hieße: „Das wissend, machte er das und das“, wird das auf Deutsch: „Er machte es, weil er dies oder das wusste“, oder: „Weil er das wusste, machte er jenes.“
Dann verwenden die Litauer viele Diminutive. Allein für die Sonne gibt es 23 Verkleinerungen. Wie im Russischen redet man die Eltern als „Väterchen“und „Mütterchen“an. Und man fragt: „Wie geht’s dem G’sundheiterl?“Oder: „Bringen Sie mir ’s Rechnungerl!“Damit wird Vertrautheit mitgeteilt. Da muss ich mir fürs Deutsche etwas einfallen lassen. An jeder Ecke eines Satzes lauern solche Entscheidungen!
Weiters gibt es fast keine Komposita – keinen „Wintermantel“, sondern einen „winterlichen Mantel“. Und Litauisch hat keine Artikel! Jeder Artikel, ob bestimmt oder unbestimmt, ergibt sich aus dem Sinn.
SN: Was ist daran schwierig? Vor Jahren habe ich die Erzählung „Stiklo šalis“übersetzt. Man kann daraus machen: „Das gläserne Land“, „Glasland“, „Ein Land aus Glas“und so weiter. Es gibt mindestens neun Varianten dafür.
SN: Seit wann wird litauische Literatur auf Deutsch übersetzt? Vor allem seit der Unabhängigkeit. Bis dahin ist nur in der DDR viel gelesen worden, aber im Westen kaum. Denn außer Irene Brewing in Ostberlin gab es keine Übersetzer. So bin ich dazu gekommen: Beim Literarischen Kolloquium Berlin waren 1990 fünf Autoren aus Vilnius eingeladen. Als ich um die Übersetzung gebeten wurde, hab ich gesagt: Gut, ich probier’s! Das war ein glücklicher Zufall.
Die Anthologie „Das Stieropfer“(mit Antanas Gailius, 1992 im Otto Müller Verlag) war eine der ersten im Westen publizierten Übersetzungen – finanziert vom Land Salzburg dank der Initiative Hofrat Kröns. Wichtige Impulse für den deutschsprachigen Markt kamen etwa mit Ričardas Gavelis, Jurga Ivanauskaitė und Jurgis Kunčinas, als Litauen 2002 Gastland der Frankfurter Buchmesse war.
SN: Welche litauischen Autoren sind derzeit interessant? Zum Beispiel Undinė Radzevičiūtė, die ist auf litauischen Besten- und Bestsellerlisten. Für ihr erstes Buch „Fische und Drachen“bekam sie 2015 den Literaturpreis der EU; es fand beim Litauen-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse 2017 viel Beachtung. Ihr neuer Roman „Das Blut ist blau“ist soeben auf Deutsch erschienen (im Residenzverlag, beide übersetzt von Cornelius Hell).
Interessant ist Tomas Venclova, dessen Lyrik und Prosa von Suhrkamp verlegt wird. Unlängst durfte ich für die Zeitschrift „manuskripte“fünf seiner Gedichte übersetzen. Das war schwierig! Die sind ja gereimt und mit präzisem Rhythmus. Das musste ich mir wie eine Partitur aufzeichnen. Eine schöne Arbeit!
SN: Was ist besonders an Romanen von Undinė Radzevičiūtė? Typisch für ihren Stil sind kurze, abgebrochene Sätze – manchmal wie bei Marlene Streeruwitz.
Sie verarbeitet interessante Stoffe. Im ersten Roman geht es um China und Europa im 18. Jahrhundert und heute. Das neue Buch handelt im 15. Jahrhundert in Livland (heute Lettland und Estland, Anm.) von der Übergangssituation von Rittertum, Deutschem Orden und städtischem Bürgertum. Und es geht um den nördlichen Zweig der BorgiaDynastie – ein geschichtlicher Stoff, mit viel Ironie erzählt!