Wer schert sich um den Wählerwillen?
Parlamentsmandate verkommen zusehends zu banalen Tauschobjekten im politischen Tagesgeschäft. Das tut dem Parlament nicht gut – und der Demokratie.
Sebastian Kurz ging vor zwei Jahren als Spitzenkandidat der ÖVP in die Nationalratswahl. Aber er nimmt jetzt, nach Beendigung seiner Kanzlerschaft, das damals erworbene Mandat nicht an, weil er lieber wahlkämpfen, pardon, nein, weil er lieber, wie er sagt, „bei den Menschen sein“möchte.
Werner Kogler ging im Mai als Spitzenkandidat für die Grünen in die EU-Wahl und sammelte mehr als 70.000 Vorzugsstimmen. Doch er nimmt dieses Mandat nicht an, weil er lieber als grüner Spitzenkandidat in den Nationalrat möchte.
Philippa Strache, FPÖ, erhält ein Nationalratsmandat, damit ihrem Mann der Abschiedsschmerz von der Vizekanzlergage nicht so wehtut.
Petra Steger, ebenfalls FPÖ, ließ sich als Listendritte ins Europaparlament wählen. Doch sie nimmt dieses Mandat nicht an, weil sie lieber im Nationalrat bleibt.
Sodass man ernsthaft fragen muss: Was ist ein Parlamentsmandat eigentlich wert? Offensichtlich nicht allzu viel, sonst würde es nicht als Kleingeld am Altar der Parteitaktik geopfert. Beziehungsweise zum banalen Tauschobjekt im politischen Tagesgeschäft degradiert. Und wer da meint, ein Parlament sei der höchste Ausdruck der demokratischen Ordnung, ist ebenso als hoffnungsloser Naivling entlarvt wie einer, der darauf hinweist, dass im Parlament immerhin der Willen des Souveräns – nämlich der Bürgerin und des Bürgers – zum Ausdruck kommt. Oder dass das Parlament die ehrenvolle und wichtige Aufgabe hat, die Gesetze
Was ist ein Parlamentsmandat eigentlich wert?
zu machen und die Regierung zu kontrollieren. Vergessen Sie’s! In der politischen Praxis wird das Parlament immer mehr zum Platzhaltergremium für jene, die es nicht auf die Regierungsbank schaffen oder die gerade ein politisches Einkommen benötigen.
Die erwähnten Vorkommnisse deuten auf einen allzu sorglosen Umgang mit dem Wählerwillen hin. Und sie werden, so ist zu befürchten, als schmerzlichen Kollateralschaden eine allgemeine Abwertung des Nationalrats, und des Parlamentarismus als solchen, herbeiführen. Dass ein solcher Prozess nicht ganz ungefährlich ist, ist aus der jüngeren Geschichte hinlänglich bekannt. Am Anfang des Endes der parlamentarischen Demokratie steht deren Diffamierung als Quatschbude und/oder als Tummelplatz einer volksfernen Politikerkaste. Wenn die Wählerschaft beginnt, diesen Diffamierungen zu glauben, ist es nicht mehr wirklich schwer, das diffamierte Parlament zu beseitigen.
Davon sind wir gottlob meilenweit entfernt. Doch die Lektion aus dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts sollte auch Sebastian Kurz bewusst sein, der sich zuletzt in etlichen Interviews in einer Weise über den Nationalrat geäußert hat, die einem Kanzlerkandidaten nicht gut ansteht. Die Art, wie im Hohen Haus „miteinander umgegangen“werde, sei nicht sein Stil, sagte Kurz beispielsweise, und er sprach unter Verweis auf den Nationalrat von der „Schattenseite der Politik“. Mit seiner Kritik an der oft gehässigen Atmosphäre im Hohen Haus hat Kurz nicht unrecht; was dort die Mandatare einander (oder den anwesenden Regierungsmitgliedern) an den Kopf werfen, ist oftmals unter jedem erträglichen Niveau. Aber als Parteiobmann und Kanzlerkandidat aus diesem Grund die Mitarbeit im Hohen Haus abzulehnen kann nicht die Lösung sein. Wir haben nun einmal kein anderes, besseres. Dass der Nationalrat in diesen frühsommerlichen Wochen durch eine Reihe nicht durchdachter Husch-Pfusch-Gesetze und Entschließungen nicht eben zur Festigung seines guten Rufs beiträgt, sei am Rande erwähnt.
Am Rande erwähnt sei auch der Umstand, dass in der gesamten Debatte um Macht und Mandate die Heuchelei nicht zu kurz kommt. So haben etliche jener Zeitgenossen, die sich im Fall Sebastian Kurz nicht einkriegen konnten vor Empörung über den Ex-Kanzler, weil dieser durch die Nichtannahme des Nationalratsmandats seine Missachtung des Parlaments zum Ausdruck bringe, im Fall Werner Kogler ganz anders argumentiert. Dessen Nichtannahme des EU-Parlamentsmandats wurde keineswegs, wie bei Kurz, als Missachtung dieses Gremiums interpretiert, sondern als genialer Schachzug, der den Grünen zum Vorteil gereichen werde.
Warum Kogler darf, was Kurz zum Vorwurf gemacht wird, erschließt sich nicht wirklich.