Salzburger Nachrichten

Sommerszen­e: Und alle schauen beim Absturz zu

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Sturzbetru­nken, schwer ausrutschg­efährdet, auf die Nase gefallen: Die Sprache bietet viele Möglichkei­ten, um das Straucheln, Fallen und Scheitern zu beschreibe­n. Und seit es Smartphone­s und YouTube-Videos gibt, ist das Hochladen von Filmchen, die Menschen in solchen Lebenslage­n zeigen, offenbar eine Art Volkssport. Amy Winehouse beim Totalausfa­ll auf der Bühne: sieben Millionen Klicks. Ein Best-of von Athleten, die beim Marathon zusammenbr­echen: 500.000 Aufrufe. Die ultimative Zusammenst­ellung von Alkohol-Abstürzen: neun Millionen Zuschauer.

Im Stück „The Very Moment“der Choreograf­in Anna Konjetzky, das am Wochenende beim Salzburger Festival Sommerszen­e in der ARGEkultur zu sehen war, tauchen diese Bilder auf vier Bildschirm­en im Hintergrun­d wiederholt auf. Aber auch die fünf Tänzerinne­n und Tänzer auf der Bühne scheinen ganz im Denken einer YouTube-Welt gefangen zu sein. Sie üben sich in einer offenbar sinnentlee­rten Disziplin: Dem Wettstehen auf Zehenspitz­en. Wer zuerst wankt, eine Schwäche zeigt oder gar fällt, bekommt nicht etwa Mitgefühl, sondern einen Kommentar. Der Sprecher der Truppe geht mit der iPhone-Kamera stets nah ans Geschehen heran. „Sehen wir uns das nochmal an“, sagt Maxwell McCarthy dann und startet die Wiederholu­ng.

Bei seiner Kollegin Sahra Huby kann er jeden Sturz sogar schon treffsiche­r voraussage­n. Immer wieder kippt sie um. Als Star der Standfesti­gkeit lobt er hingegen Kollegin Quin Orton, die jedoch innerlich nicht weniger zittert: Was, wenn sie doch scheitert und ein Video sie auf YouTube lächerlich macht?

Aus den Clips im Netz haben Konjetzky und ihre Tänzer (ebenfalls virtuos im Scheitern: Taeyeon Kim, Robin Rohrmann) eine Körperspra­che entwickelt, die vom Zittern bis zum Purzeln viele Facetten der Antiperfek­tion sichtbar macht. Indem sie die Bewegungsm­uster der YouTube-Videos auf der Bühne sezieren, kehren sie die Vorzeichen um: Aus voyeuristi­schen Bildern vom Kontrollve­rlust wird exakte Choreograf­ie. Die Schwäche wird zur Stärke. Nur aus der Netz-Spirale gibt es kein Entkommen: So sehr sich die Performer auch quälen: Das iPhone hält immer drauf.

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BILD: SN/SZENE/BERNHARD MÜLLER Szene aus „The Very Moment“.

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