Die Demokratie in der Türkei lebt noch
Bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul unterlag zwar der Kandidat Binali Yıldırım, aber der wahre Verlierer heißt Recep Tayyip Erdoğan. Wie reagiert jetzt der türkische Präsident?
„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“
ISTANBUL. Recep Tayyip Erdoğan hat in Istanbul hoch gepokert, doch der türkische Präsident hat sich verspekuliert. Mit der Entscheidung zur Annullierung des Siegs der Opposition von Ende März war er ein hohes Risiko eingegangen. Zu wichtig schien ihm die 16-MillionenMetropole, um sie der Opposition zu überlassen. Doch die Annullierung der Wahl verletzte das Gerechtigkeitsempfinden vieler Türken.
Nein, die Türkei ist keine Diktatur. Wäre sie es, hätte es die Wiederholung der Kommunalwahl und den Wechsel im Istanbuler Rathaus nicht gegeben. Der Erfolg des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu, diesmal mit rund 777.000 Stimmen Vorsprung statt mit 13.000 wie im ersten Durchgang, ist ein Sieg für die geschundene und von manchen schon totgesagte türkische Demokratie.
Staatschef Erdoğan hat in den vergangenen Jahren die Gewaltenteilung ausgehöhlt, das Parlament entmachtet, die Justiz gegängelt und die Medien gleichgeschaltet. Als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion genießt er eine Machtfülle wie kein anderer türkischer Politiker seit dem Staatsgründer Atatürk.
Erdoğan schickte mit dem ExPremier Binali Yıldırım einen ergebenen Vertrauten ins Rennen um das Rathaus am Bosporus, er stilisierte die Kommunalwahl zur „Überlebensfrage“. Bei der Bürgermeisterwahl unterlag zwar der Kandidat Yıldırım, aber der wahre Verlierer heißt Erdoğan. Denn die Wähler in Istanbul haben dem allmächtigen Präsidenten seine Grenzen aufgezeigt.
Für Erdoğan und seine islamischkonservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat die Niederlage in der Wirtschaftsmetropole weitreichende Folgen. Der Präsident hatte 1994 seine politische Karriere als Bürgermeister am Bosporus begonnen. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, hat er einmal gesagt. Zwar bleibt er weiterhin fest an der Macht, doch stärkt der Wahlsieg die Opposition über Istanbul hinaus. Die Niederlage der AKP ist umso schmerzhafter für Erdoğan, als er viele Institutionen von den Medien über die Gerichte bis zur Wahlkommission kontrolliert, wie Experten hervorheben. Zwar ist seine Macht seit der Einführung des Präsidialsystems im Juli 2018 so groß wie nie. Doch hat das neue System zur Folge gehabt, dass sich Nationalisten, Kemalisten und Kurden in der Opposition gegen Erdoğan zusammengeschlossen haben.
Erdoğan ist nun abhängiger denn je von der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), mit der er seit dem Putschversuch von 2016 eine informelle Koalition eingegangen ist.
Viel wird jetzt davon abhängen, wie Erdoğan mit diesem Wahlergebnis umgeht. Es markiert zwar nicht das Ende des „Systems Erdoğan“, aber der bisher als unschlagbar geltende Staatschef ist politisch angezählt. Zwei Reaktionen sind denkbar: Erdoğan könnte auf die Opposition zugehen und einen breiten gesellschaftlichen Konsens suchen, so wie er es Anfang der 2000er-Jahre getan hat. Oder er versucht, weiterhin zu polarisieren,, um seine politische Macht zu zementieren.
Theoretisch kann Erdoğan, gestützt auf die außerordentlichen Vollmachten seiner Präsidialverfassung, zunächst einmal weiterregieren wie bisher. Aber er muss sich Sorgen machen: Was, wenn sich der Trend der Kommunalwahlen, bei denen die regierende Erdoğan-Partei AKP vier der fünf größten Städte verloren hat, bei der Präsidentenund Parlamentswahl 2023 fortsetzt?
Schon wird in der Türkei darüber spekuliert, ob dann der in Istanbul jetzt triumphierende İmamoğlu gegen Erdoğan antritt. Wenn er sich bis zu diesem Zeitpunkt als Bürgermeister der Millionen-Metropole bewährt, könnte er Erdoğan durchaus gefährlich werden.
Auch in der Regierungspartei selbst rumort es: Erdoğan-Kritiker in der AKP, wie der frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan und Ex-Premier Ahmet Davutoğlu, schmieden offensichtlich Pläne für eine neue Partei. Die Istanbuler Bürgermeisterwahl bringt also auf erfrischende Weise Bewegung in die bisher ganz von Erdoğan dominierte türkische Politik.