Lichtes Spektakel im finsteren Mythenwald
Zwei Österreicher mischen eine Kleinstadt in Mittelfranken auf.
Beim ersten Auftritt des spärlich bekleideten Spukwesens Phöbe ahnt man noch nicht, dass die Sache kompliziert werden wird. Sie klagt über die böse Erlkönigin, Phöbe soll ihr helfen, den freundlichen Lebkuchenmann zu vertreiben. Eine Erlkönigin? Ein Lebkuchenmann? Auch der Name des Spielorts, das Bergwaldtheater in der mittelfränkischen Römerstadt Weißenburg, klingt nach einer sommerlichen Märchenstunde mit schönen Kostümen, netter Begleitmusik und der einen oder anderen Lebensweisheit vor einem glücklichen Ende. Doch weit gefehlt!
Was sich der österreichische Schriftsteller Franzobel und sein Regie führender Landsmann Georg Schmiedleitner zum 90. Geburtstag der äußerst romantisch-verwunschenen Spielstätte in Mittelfranken unter freiem Himmel ausgedacht haben, dürfte der größtmögliche Kontrapunkt zu den üblichen Sommernachtsspektakeln sein – „Jedermann“und Nibelungenfestspiele eingeschlossen.
Franzobel war vor zwei Jahren Stadtschreiber in Weißenburg und hat sich tief in die Geschichte der Gegend eingegraben. Er jagt ein gigantisches Ensemble aus Profis und Laien drei Stunden lang durch unzählige wahre und erfundene Szenen aus diversen Zeiten. Einmal sind wir im Mittelalter und begegnen einem Hexentribunal, bei dem ausschließlich Kinder Täter und Opfer sind, dann wird turbulent gehochzeitet, plötzlich toben NSSchergen herum, dann treffen wir einen selbstgefälligen Markgrafen, dann wiederum einen, glücklicherweise, arg inkompetenten Henker.
Als grobe Klammer dient Phöbes Versuch, es der Erlkönigin recht zu machen und den nach Weihnachtsgebäck duftenden Versöhner zu vernichten. Diesen Lebkuchenmann spielt „Tatort“-Kommissar Andreas Leopold Schadt in brillantem Wechsel von hohem und eher hohlem Ton. Einmal orgelt er tiefstes Fränkisch, einmal liefert er Knittelverse. Anna Mateur verzaubert und verstört zugleich als miesepetrige Erlkönigin. Bettina Brezinski ist eine verwegen-erotische Phöbe.
Verzauberung ist auch das Stichwort fürs gesamte Stück. Denn es geht um großes Mythentheater, das mit Motiven mittelalterlicher Mysterienspiele ebenso spielt wie mit derb-überdrehtem Volkstheater von heute und gelegentlichen epischen Brüchen. Immer wieder entsteht eine Art Erdung, ein Entzaubern und Infragestellen des Gesehenen.
Leicht konsumierbar ist hier wenig, auch wenn es viele tolle Bühneneffekte und überaus vielseitige Livemusik gibt. Die zentrale Botschaft dreht sich um Autonomie und Selbstbefragung. Damit weist das Stück weit über Weißenburg hinaus, allerdings wird den Bewohnern der Stadt öfters der – nicht nur historische – Spiegel vorgehalten. Etwa die Begeisterung von Glasern und Tischlern, die nach den Judenpogromen schöne Aufträge bekamen, oder die engstirnige Mentalität mancher Einheimischer, die mit dem Satz „woanders is a net anders“fein zusammengefasst ist.
Immer wieder taucht ein harmlos erscheinendes, kleinbürgerliches Paar auf und kommentiert manche Szene. Später versteckt es einen nach Lebkuchen riechenden Flüchtling, doch letztlich siegt der Wunsch nach Behaglichkeit, es verrät ihn. Feigheit und Doppelmoral, Abgeben von Verantwortung und Spießigkeit – auch dies ein rotes Wollknäuel im Stück.
Mit dem „Lebkuchenmann“ist dem Bergwaldtheater ein Sommerhit der anderen Art gelungen. Am Premierenwochenende stimmte nur eines nicht: das Wetter. Schnürlregen und Wind machten den Personen auf und jenseits der Bühne zu schaffen. Hoffentlich werden gute wie böse Menschen und Geister an den kommenden Abenden nicht von realen Stürmen weggefegt; sie haben mit ihren Seelengewittern schon genug zu tun.