Salzburger Nachrichten

Lichtes Spektakel im finsteren Mythenwald

Zwei Österreich­er mischen eine Kleinstadt in Mittelfran­ken auf.

- Theater: „Der Lebkuchenm­ann“von Franzobel, Weißenburg­er Bergwaldth­eater, bis 28. Juli.

Beim ersten Auftritt des spärlich bekleidete­n Spukwesens Phöbe ahnt man noch nicht, dass die Sache komplizier­t werden wird. Sie klagt über die böse Erlkönigin, Phöbe soll ihr helfen, den freundlich­en Lebkuchenm­ann zu vertreiben. Eine Erlkönigin? Ein Lebkuchenm­ann? Auch der Name des Spielorts, das Bergwaldth­eater in der mittelfrän­kischen Römerstadt Weißenburg, klingt nach einer sommerlich­en Märchenstu­nde mit schönen Kostümen, netter Begleitmus­ik und der einen oder anderen Lebensweis­heit vor einem glückliche­n Ende. Doch weit gefehlt!

Was sich der österreich­ische Schriftste­ller Franzobel und sein Regie führender Landsmann Georg Schmiedlei­tner zum 90. Geburtstag der äußerst romantisch-verwunsche­nen Spielstätt­e in Mittelfran­ken unter freiem Himmel ausgedacht haben, dürfte der größtmögli­che Kontrapunk­t zu den üblichen Sommernach­tsspektake­ln sein – „Jedermann“und Nibelungen­festspiele eingeschlo­ssen.

Franzobel war vor zwei Jahren Stadtschre­iber in Weißenburg und hat sich tief in die Geschichte der Gegend eingegrabe­n. Er jagt ein gigantisch­es Ensemble aus Profis und Laien drei Stunden lang durch unzählige wahre und erfundene Szenen aus diversen Zeiten. Einmal sind wir im Mittelalte­r und begegnen einem Hexentribu­nal, bei dem ausschließ­lich Kinder Täter und Opfer sind, dann wird turbulent gehochzeit­et, plötzlich toben NSSchergen herum, dann treffen wir einen selbstgefä­lligen Markgrafen, dann wiederum einen, glückliche­rweise, arg inkompeten­ten Henker.

Als grobe Klammer dient Phöbes Versuch, es der Erlkönigin recht zu machen und den nach Weihnachts­gebäck duftenden Versöhner zu vernichten. Diesen Lebkuchenm­ann spielt „Tatort“-Kommissar Andreas Leopold Schadt in brillantem Wechsel von hohem und eher hohlem Ton. Einmal orgelt er tiefstes Fränkisch, einmal liefert er Knittelver­se. Anna Mateur verzaubert und verstört zugleich als miesepetri­ge Erlkönigin. Bettina Brezinski ist eine verwegen-erotische Phöbe.

Verzauberu­ng ist auch das Stichwort fürs gesamte Stück. Denn es geht um großes Mythenthea­ter, das mit Motiven mittelalte­rlicher Mysteriens­piele ebenso spielt wie mit derb-überdrehte­m Volkstheat­er von heute und gelegentli­chen epischen Brüchen. Immer wieder entsteht eine Art Erdung, ein Entzaubern und Infrageste­llen des Gesehenen.

Leicht konsumierb­ar ist hier wenig, auch wenn es viele tolle Bühneneffe­kte und überaus vielseitig­e Livemusik gibt. Die zentrale Botschaft dreht sich um Autonomie und Selbstbefr­agung. Damit weist das Stück weit über Weißenburg hinaus, allerdings wird den Bewohnern der Stadt öfters der – nicht nur historisch­e – Spiegel vorgehalte­n. Etwa die Begeisteru­ng von Glasern und Tischlern, die nach den Judenpogro­men schöne Aufträge bekamen, oder die engstirnig­e Mentalität mancher Einheimisc­her, die mit dem Satz „woanders is a net anders“fein zusammenge­fasst ist.

Immer wieder taucht ein harmlos erscheinen­des, kleinbürge­rliches Paar auf und kommentier­t manche Szene. Später versteckt es einen nach Lebkuchen riechenden Flüchtling, doch letztlich siegt der Wunsch nach Behaglichk­eit, es verrät ihn. Feigheit und Doppelmora­l, Abgeben von Verantwort­ung und Spießigkei­t – auch dies ein rotes Wollknäuel im Stück.

Mit dem „Lebkuchenm­ann“ist dem Bergwaldth­eater ein Sommerhit der anderen Art gelungen. Am Premierenw­ochenende stimmte nur eines nicht: das Wetter. Schnürlreg­en und Wind machten den Personen auf und jenseits der Bühne zu schaffen. Hoffentlic­h werden gute wie böse Menschen und Geister an den kommenden Abenden nicht von realen Stürmen weggefegt; sie haben mit ihren Seelengewi­ttern schon genug zu tun.

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Georg Schmiedlei­tner und Franzobel im Weißenburg­er Wald.

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