An der Straße liegt immer Europa
Wie ist Europa verbunden? Der Niederländer Mathijs Deen sucht eine Antwort und findet viele Wege.
BERNHARD FLIEHER SALZBURG.
„Ich gehöre zur Generation Rücksitz“, sagt Mathijs Deen über die Reisen, als er noch Kind gewesen ist. Mit einem Citroën C3, genannt „Ente“, war die Familie unterwegs Richtung Süden. „Ich lernte Europa vom Auto aus kennen, nicht von oben, vom Flugzeug aus.“Das macht einen Unterschied.
Wer auf dem Boden reist, nähert sich seinem Ziel durch die Begegnungen mit anderen Landschaften und Menschen, kommt diesem Ziel nicht nur in Kilometern gerechnet, sondern auch emotional näher. Wer so reist, überfliegt nichts, sondern erfährt. Und so hat sich Mathijs Deen, Journalist und Reiseschriftsteller aus den Niederlanden, noch einmal in einem C3 auf den Weg gemacht. Er fuhr nicht auf Urlaub. Er fuhr, um den Kontinent zu erkunden. Daraus wurde das Buch „Über alte Wege“, das als Sachbuch angepriesen wird, aber vielmehr ein essayistisches Kleinod geworden ist.
An manchen Straßen gibt es Schilder, die einen geheimnisvollen Weg weisen. In weißer Schrift auf grünem Grund stehen da Nummern wie E56. Die führt etwa von Nürnberg nach Sattledt in Oberösterreich. Dort schließt sie an die E57 an, auf der es weitergeht bis Slowenien. Als Kind saß Deen im Auto und sah solche Schilder. Ihrer transkontinentalen Bedeutung war er sich freilich nicht bewusst.
Jeder kennt die großen, viel besungenen Straßen, die die USA durchschneiden: die Route 66 oder den Highway 61. In Europa gibt es das nicht. Die Straßen sind auch nicht planmäßig entworfen, sondern setzen sich aus Teilstücken zusammen – aus alten Handelspfaden oder der topografisch besten Regionalverbindung.
Damit er auch der Theorie Genüge tut, reiste Mathijs Deen zuerst nach Brüssel zur zuständigen Stelle in der EU-Kommission. Dort wurde zunächst auf Grundlage der „Declaration on the Construction of Main International Traffic Arteries“(1950) und seit 1975 auf Basis des „European Agreement on Main International Traffic Arteries“über grenzenlose Straßenverbindungen nachgedacht. Was Deen dort hört, bleibt recht trocken und pragmatisch. Den europäischen Geist, der in einem Wirrwarr aus Wegen den Kontinent vernetzt, muss er sich tatsächlich auf der Straße suchen.
Seit rund einer Million Jahren bewegen sich Menschen durch Europa. Auf der Suche nach Nahrung oder Wärme. Manchmal auf der Flucht, manchmal bloß um etwas anders zu sehen. Die literarische Reise führt von der Besiedlung des Kontinents vor mehr als 800.000 Jahren bis zur Migrationsbewegung unserer Tage. Schnell kommt Deen zu einer These: „Typisch für Europa ist, dass wir auf einer Halbinsel wohnen – ein Endpunkt, eine Sackgasse. Menschen konnten sich hier nicht aus dem Wege gehen. Viele verschiedene Gruppen haben hier Heimat gefunden.“So stößt man, kaum zieht man los, auch auf Nebenbewohner, die nicht immer freundlich gesinnt sind.
Wir begegnen bei Mathijs Deen dem Straßenräuber Bulla, der im Jahre 207 sein Unwesen getrieben hat. Quasi gemeinsam auf der Flucht vor der spanischen Inquisition ist man mit Jakob Barocas, dem Erben eines zwangskonvertierten Juden.
Mathijs Deen sucht sich als „Reisekumpanen“kaum bekannte, manchmal auch historisch verbürgte Schicksale. Die ersten Europäer tauchen ebenso auf wie Pilger und Wegelagerer. Deen wandert mit einer isländischen Eroberin, trifft auf Römerinnen, die irgendwohin zwangsverheiratet worden sind. Er marschiert mit Soldaten – etwa dem Rekruten Coenraad Nell, den seine Vorgesetzten im napoleonischen Krieg 1812 zu Fuß vom holländischen Wassenaar bis Smolensk in Russland schickten.
Dass Mathijs Deen an der Seite solch Unbekannter reist, dass er Allerweltsfiguren folgt, ist auch Stilmittel. Es geht nicht um die Biografien, es geht um die Wege, die sie zurücklegen – von Byzanz nach Rom, von Paris nach Wien. Denn diese Wege bilden das Netz, das Europa fängt. Und diese Straßen und Wege und alle Geschichten, die sich auf ihnen abspielen, wecken auch beim Lesen ein Gemeinschaftsgefühl.
„Ich gehöre zur Generation Rücksitz.“