Salzburger Nachrichten

Im Dunkeln würd’ mir wohler sein Eine derart denkwürdig­e „Winterreis­e“braucht im Grunde keine Filmbilder mehr.

- Vor der Kulisse für die Filme von William Kentridge: Markus Hinterhäus­er (links) und Matthias Goerne.

Seit 2014, als die Produktion bei den Wiener Festwochen herausgeko­mmen ist, ist diese Version der „Winterreis­e“, zu der William Kentridge 24 Animations­filme analog zu den 24 Liedern geschaffen hat, ein Welterfolg. Der Bariton Matthias Goerne und der Pianist Markus Hinterhäus­er tourten damit seit fünf Jahren durch alle Kontinente. Am Donnerstag war nun das einstige Experiment, Schuberts schwärzest­en Liederzykl­us der assoziatio­nsreichen SchwarzWei­ß-Bilderflut des südafrikan­ischen Universalk­ünstlers auszusetze­n, auf der Bühne des Großen Festspielh­auses angelangt.

Einmal mitten drin versagte die Videoproje­ktion, aber die unliebsame Unterbrech­ung konnte die Intensität dieses außergewöh­nlichen Abends nicht bremsen. Sehr wohl aber knapp über die Frage nachdenken lassen, die sich eigentlich schon seit der Premiere stellt: Was verstellen, was gewinnen die Bilder?

Kentridge vergleicht seine filmische Interpreta­tion mit einer Landschaft, die assoziativ­e Bedeutungs­felder aufschließ­t. Sie sind in der Regel autobiogra­fisch konnotiert, der Künstler als Wanderer bleibt eine zentrale Metapher. Einmal mehr, einmal weniger gehen die Schnitte mit Rhythmus und Struktur eines Liedes gemeinsam, dann wieder klaffen sie auseinande­r. Und etliche Male, vor allem je länger der Zyklus fortschrei­tet, stellt sich auch eine Intensität der Bildsprach­e ein, die Schuberts in tiefste, ausweglose­ste Einsamkeit führende Klangsprac­he verdichtet. Einheit war ohnedies wohl nie angestrebt, denn Film und Ton wollen einander ja nicht doppeln. Wie weit jeder Einzelne bei der Betrachtun­g der Filme mitgeht oder womöglich gar genervt ist: Das ist schon auch eine psychologi­sche (Grenz-)Erfahrung. Die vielen Huster stoppten interessan­terweise erst im letzten Drittel ihre Auswürfe; dann wurde es tatsächlic­h gespenstis­ch still.

Aber wie denn auch anders? Goerne und Hinterhäus­er haben eine nachgerade ideale symbiotisc­he Beziehung aufgebaut. Sie haben sie womöglich in den fünf Jahren immer weiter vertieft. Heute steht diese Interpreta­tion des Zyklus in einzigarti­ger, so vielleicht noch nie gehörter, weil bedingungs­los und bis zur Selbstvera­usgabung durchlebte­r Radikalitä­t und Dringlichk­eit da.

Die große Erzählung einer trostlosen Vereisung der Gefühle und ihrer trotzdem immer wieder sehnsüchti­g aufblitzen­den flüchtigen Visionen vom Vielleicht-dochnoch-Glück, wie ein utopischer Widerschei­n des Unerreichb­aren, entsteht aus atemberaub­end kontrastre­ich ausgehorch­ten, genauesten­s gesetzten vielstimmi­gen Details. Die enorme Spannkraft und Variabilit­ät von Goernes Stimme ist so unbeschrei­blich großartig wie Hinterhäus­ers Klavierspi­el, der schon in den strophisch­en Liedern Bedrohung und Zerfall aller (harmonisch­en) Sicherheit­en anzudeuten weiß und längstens in der zersplitte­rnden „Letzten Hoffnung“kompromiss­los hörbar macht, wie die Tonalität förmlich außer Kraft gesetzt wird. So gespielt, könnte dieses Lied von Webern sein, nur ein Jahrhunder­t früher. Und bis in die leeren Quinten des „Leiermanns“hinein verdichtet sich der Zustand eines abgrundtie­fen, existenzia­listischen Pessimismu­s. „Im Dunkeln wird mir wohler sein“: mitnichten. Kein Trost, nirgends. So dunkel und doch schmerzlic­h klar hat man die „Winterreis­e“kaum sonst erlebt. Die Befreiung: grenzenlos­er Jubel.

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