Chinas Gleichgewicht ist in Gefahr
Der Ruf nach Freiheit in Hongkong will nicht verstummen – und bringt China in ein Dilemma. Das Regime muss die Balance halten.
Pekings Führung rettet sich in Drohungen. Mit einem martialischen Video, das die Schlagkraft von Sondereinheiten zeigt, sollte die Protestbewegung in Hongkong eingeschüchtert werden. Ein militärisches Eingreifen stehe am Ende des Weges, so die Botschaft.
Am Säbelrasseln wird ein Dilemma deutlich, in dem Chinas Präsident Xi Jinping, Generalsekretär der Kommunistischen Partei, und seine Paladine stecken. Die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong mit ihren 7,5 Millionen Einwohnern genießt beträchtliche Sonderrechte. Ein Land, zwei Systeme – so heißt die vertragliche Basis, auf der 1997 die Rückgabe an China abgewickelt wurde: Hongkong gehört zu China. Hongkong genießt aber im Rahmen seiner Selbstverwaltung Werte und Freiheiten der westlichen Demokratien, darunter eine unabhängige Rechtsprechung.
Mittlerweile ist in der Stadt eine Generation herangewachsen, die diese Werte für ebenso normal hält wie junge Menschen in Europa oder den USA. Festlandchina dagegen wirkt Tag um Tag bedrohlicher.
Sollte Peking Truppen marschieren lassen, riskiert es einen unkalkulierbaren Flurschaden. Die USA könnten eine Intervention zum Anlass nehmen, ihren Handelskrieg zu rechtfertigen und zu verschärfen. Chinas Beziehungen zum gesamten Westen, der Pekings globale Machtansprüche mit wachsendem Misstrauen betrachtet, würden sich deutlich abkühlen – mit unangenehmen wirtschaftlichen Folgen.
Ein Dialog mit den Demonstranten aber, eventuell sogar ein Einlen
ken, ist in Chinas Logik nicht vorgesehen. Es wäre ein Gesichtsverlust, der als Zeichen von Schwäche ausgelegt werden würde. Wo sich China doch als Alternative zur unkontrollierbaren Unruhe in den liberalen Gesellschaften anpreist und als Hort von Sicherheit, Stabilität und Aufschwung. Kapitalistische Diktatur ist besser als pluralistische Vielfalt. So die Botschaft.
Und tatsächlich: Auf den ersten Blick erscheint China beeindruckend. Schlüsseltechnologien sind längst von Europa und den USA abgekupfert, manche würden sagen: gestohlen oder durch Erpressung erlangt, und teilweise erstaunlich weiterentwickelt. Ein abschreckender staatlicher Überwachungsapparat macht sich den Fortschritt zunutze.
Wachstum ist die einzige Rechtfertigung
Seit fünf Jahren läuft das Seidenstraßenprojekt – geostrategischer Masterplan und Prestigeobjekt von Xi Jinping, das Chinas Macht weltweit verankern soll. Gerade eben hat Papua-Neuguinea, ein strategisch sehr wichtiger Inselstaat im Pazifik, um Hilfe angeklopft. Für läppische sieben Milliarden Euro erkaufe sich China einen vergoldeten Schlüssel zur Region, konstatiert die deutsche FAZ. Kann PapuaNeuguinea das Geld nicht zurückzahlen, greift Peking nach Häfen, Bodenschätzen, Infrastruktur.
Erst ein zweiter Blick offenbart die Schwächen Chinas. Das Seidenstraßenprojekt entpuppt sich in weiten Teilen als Milliardengrab. Vorzeigeprojekte in Malaysia und Myanmar wurden 2018 gestoppt oder verkleinert, wie der britische Analysedienst Economist Intelligence Unit berichtete. Mohamed Nasheed, neuer Präsident der Malediven, versprach, „Chinas Kolonialismus“in seinem Land zu beenden und Kredite neu zu verhandeln.
Auch zu Hause herrscht Unwillen. Xi Jinping hat sich zwar Alleinherrschaft verschafft. Doch gesichert ist sie nicht. Kritik an seinem aggressiven Kurs in der Außenpolitik und riesigen Seidenstraßeninvestitionen will nicht verstummen. Xis Aufstieg ging auf Kosten vieler anderer. Sie warten auf ihre Chance.
Chinas Herrscher haben eine einzige Legitimationsgrundlage: Wirtschaftswachstum und immerfort wachsender Wohlstand. Wer aber wirtschaftliche Freiheit genießt, wird auch politische Freiheit fordern – spätestens, wenn der Aufschwung stockt.
So muss der Gigant China vorsichtig vorwärtsschreiten, auf sein Gleichgewicht Bedacht nehmen, das Gewicht verlagern, von da nach dort und wieder zurück, um nicht zu stolpern und zu stürzen. Und wie es bei solch delikaten Übungen ist: Schon eine kleine Unaufmerksamkeit kann katastrophale Folgen zeitigen. Sie könnte dem Wachstum schaden, mit dem sich das Regime seine Zustimmung erkauft.
Nicht zuletzt deshalb ist Hongkong so gefährlich. Oder der Handelskrieg. Oder die fragwürdigen Auslandsinvestitionen. Oder eine politische Isolation. Der Koloss China steht auf tönernen Beinen.