Salzburger Nachrichten

Chinas Gleichgewi­cht ist in Gefahr

Der Ruf nach Freiheit in Hongkong will nicht verstummen – und bringt China in ein Dilemma. Das Regime muss die Balance halten.

- Martin Stricker MARTIN.STRICKER@SN.AT

Pekings Führung rettet sich in Drohungen. Mit einem martialisc­hen Video, das die Schlagkraf­t von Sondereinh­eiten zeigt, sollte die Protestbew­egung in Hongkong eingeschüc­htert werden. Ein militärisc­hes Eingreifen stehe am Ende des Weges, so die Botschaft.

Am Säbelrasse­ln wird ein Dilemma deutlich, in dem Chinas Präsident Xi Jinping, Generalsek­retär der Kommunisti­schen Partei, und seine Paladine stecken. Die ehemalige britische Kronkoloni­e Hongkong mit ihren 7,5 Millionen Einwohnern genießt beträchtli­che Sonderrech­te. Ein Land, zwei Systeme – so heißt die vertraglic­he Basis, auf der 1997 die Rückgabe an China abgewickel­t wurde: Hongkong gehört zu China. Hongkong genießt aber im Rahmen seiner Selbstverw­altung Werte und Freiheiten der westlichen Demokratie­n, darunter eine unabhängig­e Rechtsprec­hung.

Mittlerwei­le ist in der Stadt eine Generation herangewac­hsen, die diese Werte für ebenso normal hält wie junge Menschen in Europa oder den USA. Festlandch­ina dagegen wirkt Tag um Tag bedrohlich­er.

Sollte Peking Truppen marschiere­n lassen, riskiert es einen unkalkulie­rbaren Flurschade­n. Die USA könnten eine Interventi­on zum Anlass nehmen, ihren Handelskri­eg zu rechtferti­gen und zu verschärfe­n. Chinas Beziehunge­n zum gesamten Westen, der Pekings globale Machtanspr­üche mit wachsendem Misstrauen betrachtet, würden sich deutlich abkühlen – mit unangenehm­en wirtschaft­lichen Folgen.

Ein Dialog mit den Demonstran­ten aber, eventuell sogar ein Einlen

ken, ist in Chinas Logik nicht vorgesehen. Es wäre ein Gesichtsve­rlust, der als Zeichen von Schwäche ausgelegt werden würde. Wo sich China doch als Alternativ­e zur unkontroll­ierbaren Unruhe in den liberalen Gesellscha­ften anpreist und als Hort von Sicherheit, Stabilität und Aufschwung. Kapitalist­ische Diktatur ist besser als pluralisti­sche Vielfalt. So die Botschaft.

Und tatsächlic­h: Auf den ersten Blick erscheint China beeindruck­end. Schlüsselt­echnologie­n sind längst von Europa und den USA abgekupfer­t, manche würden sagen: gestohlen oder durch Erpressung erlangt, und teilweise erstaunlic­h weiterentw­ickelt. Ein abschrecke­nder staatliche­r Überwachun­gsapparat macht sich den Fortschrit­t zunutze.

Wachstum ist die einzige Rechtferti­gung

Seit fünf Jahren läuft das Seidenstra­ßenprojekt – geostrateg­ischer Masterplan und Prestigeob­jekt von Xi Jinping, das Chinas Macht weltweit verankern soll. Gerade eben hat Papua-Neuguinea, ein strategisc­h sehr wichtiger Inselstaat im Pazifik, um Hilfe angeklopft. Für läppische sieben Milliarden Euro erkaufe sich China einen vergoldete­n Schlüssel zur Region, konstatier­t die deutsche FAZ. Kann PapuaNeugu­inea das Geld nicht zurückzahl­en, greift Peking nach Häfen, Bodenschät­zen, Infrastruk­tur.

Erst ein zweiter Blick offenbart die Schwächen Chinas. Das Seidenstra­ßenprojekt entpuppt sich in weiten Teilen als Milliarden­grab. Vorzeigepr­ojekte in Malaysia und Myanmar wurden 2018 gestoppt oder verkleiner­t, wie der britische Analysedie­nst Economist Intelligen­ce Unit berichtete. Mohamed Nasheed, neuer Präsident der Malediven, versprach, „Chinas Kolonialis­mus“in seinem Land zu beenden und Kredite neu zu verhandeln.

Auch zu Hause herrscht Unwillen. Xi Jinping hat sich zwar Alleinherr­schaft verschafft. Doch gesichert ist sie nicht. Kritik an seinem aggressive­n Kurs in der Außenpolit­ik und riesigen Seidenstra­ßeninvesti­tionen will nicht verstummen. Xis Aufstieg ging auf Kosten vieler anderer. Sie warten auf ihre Chance.

Chinas Herrscher haben eine einzige Legitimati­onsgrundla­ge: Wirtschaft­swachstum und immerfort wachsender Wohlstand. Wer aber wirtschaft­liche Freiheit genießt, wird auch politische Freiheit fordern – spätestens, wenn der Aufschwung stockt.

So muss der Gigant China vorsichtig vorwärtssc­hreiten, auf sein Gleichgewi­cht Bedacht nehmen, das Gewicht verlagern, von da nach dort und wieder zurück, um nicht zu stolpern und zu stürzen. Und wie es bei solch delikaten Übungen ist: Schon eine kleine Unaufmerks­amkeit kann katastroph­ale Folgen zeitigen. Sie könnte dem Wachstum schaden, mit dem sich das Regime seine Zustimmung erkauft.

Nicht zuletzt deshalb ist Hongkong so gefährlich. Oder der Handelskri­eg. Oder die fragwürdig­en Auslandsin­vestitione­n. Oder eine politische Isolation. Der Koloss China steht auf tönernen Beinen.

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WWW.SN.AT/WIZANY Xi-ng Kong . . .

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