Schule muss noch viel lernen
Was im Bildungsbereich passieren muss. Und warum die folgenschwerste Bildungsreform von Türkis-Blau gar keine Bildungsmaßnahme gewesen ist.
Die „linken bildungspolitischen Experimente der letzten Jahre“hätten das Schulsystem nicht weitergebracht, tönte der blaue Vizekanzler, als er noch Vizekanzler war. Und die Regierung mache Schluss mit „Versuchen und Herumdoktern“im Bildungsbereich, ergänzte der türkise Kanzler. Fünf Monate später war Schluss mit der Regierung. Auch sie ist im schwierigen Bildungsbereich – wie die Vorgängerregierungen – über Versuchen und Herumdoktern nicht hinausgekommen. Derzeit liegen alle Reformen ohnedies auf Eis.
Bildungsminister Heinz Faßmann hatte mit ideologischen Vorgaben im Regierungspakt und den Einflussnahmeversuchen des blauen Regierungspartners zu kämpfen. Die auf FPÖ-Druck erfolgte Einführung der Deutschförderklassen, die Wiedereinführung von Ziffernnoten und des Sitzenbleibens ab der zweiten Volksschulklasse wurden massiv kritisiert. Bildungsexpertin Heidi Schrodt fordert im SN-Gespräch, es müsse endlich darauf reagiert werden, dass wir eine Migrationsgesellschaft seien, die Schule müsse auch darauf ausgerichtet werden. Schnellschüsse wie die Deutschförderklassen seien nicht hilfreich gewesen.
„Die größte ,Bildungsreform‘ der 18 Monate war diese schreckliche Reform der Mindestsicherung“, sagt Bildungswissenschafter Stefan Hopmann im SN-Gespräch. Schließlich habe die Forschung aufgezeigt, dass man 80 Prozent der unterschiedlichen Bildungsverläufe mit sozialer, kultureller und ökonomischer Armut erklären könne. Die Mindestsicherungsreform werde für größere Familien die Lebensbedingungen und so auch Bildungsund Zukunftschancen von Kindern noch weiter verschlechtern.
Die wichtigste (Bildungs-)Reform wäre für Hopmann, dafür zu sorgen, dass kein Kind in völliger Armut aufwachse, denn das sei bildungsgeschichtlich kaum mehr zu überwinden. „Die meisten dieser Kinder werden uns später als Erwachsene zehn Mal mehr kosten.“
Auf die Frage, was nun passieren müsse, hat Hopmann eine überraschende Empfehlung: Die von der vergangenen Regierung begonnenen Reformen „bleiben lassen“. Fast alles habe der Forschung nach die Eigenschaft, die sozialen Gräben zu vertiefen, ohne zu nennenswerter Leistungssteigerung zu führen.
Und was muss nun grundsätzlich passieren im Bildungsbereich?
Sozialindex
„Wenn man in Österreich im falschen Bezirk auf die Welt kommt, ist die Einkommenskarriere im Alter von sechs Jahren zu Ende“, kritisiert der Leiter der Agenda Austria, Franz Schellhorn. Die Denkfabrik drängt auf eine Neuverteilung des Bildungsbudgets nach einem Sozialindex. „Brennpunktschulen“ sollen so mehr Geld erhalten. Auch AK, SPÖ, Grüne und Neos haben sich für einen „Sozialindex“ausgesprochen.
Es gibt weiter zu viele Schulabbrecher, 20 Prozent der Pflichtschulkinder sind Risikoschüler, die Chancen für Migrantenkinder sind schlecht.
„Ohne Chancenindex wird irgendwann ein Crash kommen“, sagt Heidi Schrodt. Faßmann hatte Sympathie für ein Abgehen von der Gießkanne geäußert. Umsetzungsschritte gab es noch keine. „Still und heimlich“habe man den Sozialindex sogar teils umgesetzt, verrät Hopmann. „Wir geben für Mittelschüler deutlich mehr Geld aus als für Gymnasiasten.“Das Geld sei aber nicht wirklich angekommen, weil am starren Grundprinzip (ein Lehrer, ein Fach, eine Klasse) festgehalten werde und es so kaum Bewegungsspielraum gebe.
Schulautonomie
„Die Schulautonomie ist immer noch ein Scherz“, sagt Schrodt. Österreichs Schulen haben im internationalen Vergleich ganz geringe Handlungsspielräume und Verantwortung – und die Bürokratie wächst. Österreich habe auch keine Tradition in Sachen Schulautonomie: „Viele Direktoren wollen es nicht, können es nicht, weil sie die Verantwortung nicht wollen.“
Auch Hopmann sagt: „Schulautonomie ja, aber nicht Schulleiterautonomie – das wäre eine komplette Überforderung.“Man brauche Schulen, wo die Schulpartner dafür sorgten, dass die Schule sich so verändere, dass sie zu den Schü
„Begonnene Reformen bleiben lassen.“Stefan Hopmann, Bildungsforscher
lern, die man habe, auch passe. Für Hopmann wäre den Schulen am meisten geholfen, wenn sie ein Globalbudget hätten und selbst überlegen könnten, welche Lehrer sie brauchten. Eigene Schulbudgets scheiterten stets am geeinten Widerstand von Rot und Schwarz, weil dann weniger Pfründe zu vergeben wären.
Lehrer
Lehrer leiden nicht nur unter Gewaltproblemen im Klassenzimmer, sondern auch an Lehrerbashing und schlechtem Image. Die Lehrer sollten sich aber nicht weiter im schlechten Image „suhlen“, sondern „raus aus dem Eck – und rein in die Zusammenarbeit“– mit anderen Lehrern und den Eltern, sagt Hopmann. Der Umstieg für die traditionellen Einzelkämpfer wird schwierig. In allen Ländern, in denen Lehrer mehr in Teams arbeiten, hat sich aber gezeigt, dass nach einigen Jahren niemand mehr zurück ins Einzelkämpfertum wolle.
Heidi Schrodt verweist auf die mangelnden Ressourcen an Schulen mit besonderen Herausforderungen. Lehrer seien überfordert, weil sie auch Sozialarbeiter und Deutschförderlehrer sein müssten.
Die Lehrer werden bei uns tatsächlich wenig unterstützt: Laut der TALIS-Lehrerstudie der OECD kommt in Österreich ein Posten für administratives Personal auf 15 Lehrer – im EU-Schnitt sind es sieben. Einen Dienstposten für pädagogisches Unterstützungspersonal müssen sich bei uns 19 Lehrer teilen, im EU-Schnitt sind es nur acht.
Zudem stehen die erfahrenen Lehrer oft nicht in den herausfordernden Klassen. Der nationale Bildungsbericht zeigte, dass weniger erfahrene und fachfremde Lehrer öfter Klassen mit schwierigen Rahmenbedingungen unterrichten.
Eltern
Eltern müssen an den Schulen stärker ernst genommen und eingebunden werden. „In Österreich werden sie ja als schulfremde Personen behandelt, denen man von oben herab mitteilt, was die Schule von ihnen erwartet“, ätzt Hopmann.
Internationale Bildungsforscher weisen darauf hin, dass in jedem Schulsystem das Elternhaus die Bildung mehr beeinflusst als die Schule. In Österreich wird Bildung aber besonders stark vererbt. Schulen haben aber auch mit dem Statusfatalismus vieler Migrantenfamilien zu kämpfen – also mit Eltern, die ihren Kindern sagen, „du brauchst nicht mehr zu können als ich“und zudem kaum mit der Schule kooperieren.
Schulverwaltung
Die Schulverwaltung ist mehrgleisig und aufgebläht. Mit der Einführung der Zwitterbehörde namens Bildungsdirektion gelang keine Entparteipolitisierung. „Die Bildungsdirektionen brachten keine Verbesserung, sondern noch mehr politischen Durchgriff“, sagt Schrodt, die sich eine grundlegende Neureform der Schulverwaltung wünscht.
„Das System der Schulverwaltung kann man nicht verbessern, nicht behübschen, das kann man nur brechen“, sagt Hopmann. Und das könnte man nur dann, wenn die Schulen Budget-, Personal- und Organisationsautonomie bekämen.
Kindergarten
Kindergartenpädagogen bekommen zu wenig gesellschaftliche Wertschätzung und sind zu schlecht bezahlt. Die Gruppen sind zu groß. Es gibt viel zu wenige Kindergärtnerinnen, männliche Pädagogen fehlen. Österreich ist das letzte Land, das keine verpflichtende akademische Ausbildung zumindest für Leitungsfunktionen hat.
„Es muss endlich anerkannt werden, dass der Kindergarten eine Bildungseinrichtung ist und nicht eine Aufbewahrungsstätte“, sagt Heidi Schrodt. Die Probleme hingen auch mit dem konservativen Familienbild zusammen. Die Kompetenzzersplitterung tut ein Übriges und führt etwa dazu, dass Helfer und Kindergärtnerinnen oft von verschiedenen Parteien angestellt werden – Helferinnen von der Gemeinde, Kindergärtnerinnen vom Land.
Ganztagsbetreuung
Auch hier bremste lang die Ideologie. Der Ausbau der Ganztagsbetreuung verlief auch zuletzt schleppend und die Ganztagsschule schafft es in den Städten nicht, jene Kinder zu erreichen, die sie brauchen. Zudem handelt es sich zu oft um reine Aufbewahrungsstätten. „Ganztägige Schule allein ist noch kein Qualitätsmerkmal“, wie Schrodt betont. Das im Sommer doch noch abgesegnete Bildungsinvestitionsgesetz regelt die Verteilung von 750 Mill. Euro aus der „Bankenmilliarde“. Sollten laut Beschluss der letzten SPÖ-ÖVP-Koalition noch 750 Mill. Euro für 115.000 zusätzliche ganztägige Betreuungsplätze bis 2025 eingesetzt werden, sind es nun 40.000 Plätze bis 2033.
Digitalisierung
„Fantasien“, dass durch Digitalisierung und ein Tablet für jeden Schüler die Individualisierung beschleunigt werden könne, gehen Bildungsforscher Hopmann zu weit. Das Digitale müsse aber ein Unterrichtsfach sein. Zu glauben, dass man durch Digitalisierung Schulreformen ersetzen könnte, sei nachweislich empirisch falsch. Wichtig wäre es aber zu erreichen, dass wenigstens alle Schulen ein stabil funktionierendes Hochgeschwindigkeits-WLAN haben.
„Autonomie ist immer noch ein Scherz.“Heidi Schrodt, Bildungsexpertin