Purgertorium
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Die Durchhalteparole des DDR-Staatschefs sollte später zum geflügelten Wort werden: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“Das sagte Erich Honecker noch am 14. August 1989, knappe drei Monate, bevor die Berliner Mauer fiel.
Das Regime war da bereits in arge Bedrängnis geraten. In Budapest, Prag und Warschau drängten sich im Sommer Tausende ostdeutsche Flüchtlinge, Ungarn öffnete schließlich seine Grenzen. Am späten Abend des 9. November fiel die Mauer.
Die Frage, wie die DDR ohne Mauerfall heute aussähe, hat seitdem immer wieder für Gesprächsstoff gesorgt. Egon Krenz, der Nachfolger von Erich Honecker an der Spitze der DDR, hätte Reformen eingeleitet, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hätte aber weiterregiert und das Internet zensuriert. Und Angela Merkel wäre Forscherin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR geblieben. So lautet eine von vielen (gewagten) Theorien. Das Land hätte demnach einen Weg zwischen Kapitalismus und Postkommunismus eingeschlagen – wenn die SED-Führung rechtzeitig Reformen eingeleitet hätte.
Manche Thesen erscheinen in der Rückschau recht abstrus – etwa die Annahme, die DDR hätte die BRD übernehmen können. Allerdings: Die Geschichte hätte an bestimmten Wendepunkten wohl tatsächlich auch anders verlaufen können. Vor dem Fall der Mauer wusste man nicht, wie das Regime auf die Montagsdemonstrationen der Bürger reagieren würde – etwa auf die große Kundgebung am 9. Oktober in Leipzig, als die Menschen mit der Parole „Wir sind das Volk!“durch die Straßen zogen. Viele hatten noch Bilder aus China von Anfang Juni des Jahres im Kopf: Damals hatten die chinesischen Machthaber die Proteste am Tian'anmen-Platz in Peking blutig niederschlagen lassen.
Wäre so etwas auch in der DDR denkbar gewesen? „Diese Möglichkeit bestand bei der Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 durchaus, sie wurde auch in Zeitungsartikeln und Geschichten ausgemalt“, schreibt der deutsche Publizist HansPeter von Peschke in seinem Buch „Was wäre wenn“(WBG-Verlag). „Regimes, die um ihre Macht fürchten, handeln nicht immer rational, das Massaker in Leipzig hätte durchaus stattfinden können.“Der Historiker Alexander Demandt dagegen betont, das DDR-Regime hätte ein Blutbad mangels Rückhalt aus Moskau nicht mehr gewagt. Und: Widerstand und Fluchtwelle hätten sich nur verstärkt, wenn das Regime die Proteste mit Gewalt unterdrückt hätte, schreibt Demandt in seinem Buch „Es hätte auch anders kommen können“(Propyläen Verlag). „Hätte man die Schraube gelockert, Privatinitiativen gestattet, Westliteratur zugelassen und Ausreise ermöglicht, so hätte das gleichfalls die Abwanderung gefördert. Jede Reform hätte das System weiter unterhöhlt.“Mit Gorbatschows Reformpolitik und dem Umbruch in Osteuropa sei schlicht die „Existenzgrundlage“für den SED-Staat zerbrochen. Dennoch gab es zunächst die Theorie, dass die DDR weiter Bestand haben könnte. In den Monaten nach dem Mauerfall war von einer möglichen „Konföderation“der beiden Staaten die Rede. Die „Wessis“hätten den „Ossis“wohl mit Finanzspritzen und Know-how geholfen – so wurde spekuliert. Die DDR-Mark wäre womöglich abgestürzt, eine Wirtschaftskrise gefolgt. Viele Ostdeutsche wären in den Westen gezogen. Irgendwann aber hätten westdeutsche Unternehmer im Osten investiert. Und so hätte sich die DDR ähnlich entwickelt wie andere osteuropäische Länder. Stefan Wolle, Historiker und wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin, verweist solche Theorien aber ins Reich der Illusionen. Zwei getrennte Wirtschaften, zwei getrennte Währungen – all das sei nur Theorie gewesen, betont Wolle. In der Geschichte der DDR hätte sich die Mehrheit der Bevölkerung zu jedem Zeitpunkt die Wiedervereinigung gewünscht. „In dem Moment, in dem die Mauer weg war, war die DDR tot.“