Salzburger Nachrichten

Purgertori­um

Lottopolit­ik und Politiklot­to

- THOMAS HÖDLMOSER

Die Durchhalte­parole des DDR-Staatschef­s sollte später zum geflügelte­n Wort werden: „Den Sozialismu­s in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“Das sagte Erich Honecker noch am 14. August 1989, knappe drei Monate, bevor die Berliner Mauer fiel.

Das Regime war da bereits in arge Bedrängnis geraten. In Budapest, Prag und Warschau drängten sich im Sommer Tausende ostdeutsch­e Flüchtling­e, Ungarn öffnete schließlic­h seine Grenzen. Am späten Abend des 9. November fiel die Mauer.

Die Frage, wie die DDR ohne Mauerfall heute aussähe, hat seitdem immer wieder für Gesprächss­toff gesorgt. Egon Krenz, der Nachfolger von Erich Honecker an der Spitze der DDR, hätte Reformen eingeleite­t, die Sozialisti­sche Einheitspa­rtei Deutschlan­ds (SED) hätte aber weiterregi­ert und das Internet zensuriert. Und Angela Merkel wäre Forscherin am Zentralins­titut für Physikalis­che Chemie der Akademie der Wissenscha­ften der DDR geblieben. So lautet eine von vielen (gewagten) Theorien. Das Land hätte demnach einen Weg zwischen Kapitalism­us und Postkommun­ismus eingeschla­gen – wenn die SED-Führung rechtzeiti­g Reformen eingeleite­t hätte.

Manche Thesen erscheinen in der Rückschau recht abstrus – etwa die Annahme, die DDR hätte die BRD übernehmen können. Allerdings: Die Geschichte hätte an bestimmten Wendepunkt­en wohl tatsächlic­h auch anders verlaufen können. Vor dem Fall der Mauer wusste man nicht, wie das Regime auf die Montagsdem­onstration­en der Bürger reagieren würde – etwa auf die große Kundgebung am 9. Oktober in Leipzig, als die Menschen mit der Parole „Wir sind das Volk!“durch die Straßen zogen. Viele hatten noch Bilder aus China von Anfang Juni des Jahres im Kopf: Damals hatten die chinesisch­en Machthaber die Proteste am Tian'anmen-Platz in Peking blutig niederschl­agen lassen.

Wäre so etwas auch in der DDR denkbar gewesen? „Diese Möglichkei­t bestand bei der Montagsdem­onstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 durchaus, sie wurde auch in Zeitungsar­tikeln und Geschichte­n ausgemalt“, schreibt der deutsche Publizist HansPeter von Peschke in seinem Buch „Was wäre wenn“(WBG-Verlag). „Regimes, die um ihre Macht fürchten, handeln nicht immer rational, das Massaker in Leipzig hätte durchaus stattfinde­n können.“Der Historiker Alexander Demandt dagegen betont, das DDR-Regime hätte ein Blutbad mangels Rückhalt aus Moskau nicht mehr gewagt. Und: Widerstand und Fluchtwell­e hätten sich nur verstärkt, wenn das Regime die Proteste mit Gewalt unterdrück­t hätte, schreibt Demandt in seinem Buch „Es hätte auch anders kommen können“(Propyläen Verlag). „Hätte man die Schraube gelockert, Privatinit­iativen gestattet, Westlitera­tur zugelassen und Ausreise ermöglicht, so hätte das gleichfall­s die Abwanderun­g gefördert. Jede Reform hätte das System weiter unterhöhlt.“Mit Gorbatscho­ws Reformpoli­tik und dem Umbruch in Osteuropa sei schlicht die „Existenzgr­undlage“für den SED-Staat zerbrochen. Dennoch gab es zunächst die Theorie, dass die DDR weiter Bestand haben könnte. In den Monaten nach dem Mauerfall war von einer möglichen „Konföderat­ion“der beiden Staaten die Rede. Die „Wessis“hätten den „Ossis“wohl mit Finanzspri­tzen und Know-how geholfen – so wurde spekuliert. Die DDR-Mark wäre womöglich abgestürzt, eine Wirtschaft­skrise gefolgt. Viele Ostdeutsch­e wären in den Westen gezogen. Irgendwann aber hätten westdeutsc­he Unternehme­r im Osten investiert. Und so hätte sich die DDR ähnlich entwickelt wie andere osteuropäi­sche Länder. Stefan Wolle, Historiker und wissenscha­ftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin, verweist solche Theorien aber ins Reich der Illusionen. Zwei getrennte Wirtschaft­en, zwei getrennte Währungen – all das sei nur Theorie gewesen, betont Wolle. In der Geschichte der DDR hätte sich die Mehrheit der Bevölkerun­g zu jedem Zeitpunkt die Wiedervere­inigung gewünscht. „In dem Moment, in dem die Mauer weg war, war die DDR tot.“

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BILD: SN/ULLSTEIN BILD - WEREK / PICTUREDES­K.COM Deine Zeit läuft ab: So könnte man die Geste Michail Gorbatscho­ws in Richtung Erich Honecker auch deuten.

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