Spätsommer mit Astrid
Lindgrens Bullerbü-Inseln
Der Strand ist menschenleer, keine Kinder auf der roten Rutsche, niemand planscht in der beheizbaren Badetonne mit Ofenrohr. Vor dem Inselladen stehen viele gelbe Fahrräder zum Verleih bereit, Kajaks und Tretboote liegen am Strand. Ein einziges Segelboot hat am Ende eines langen Holzstegs im Gästehafen festgemacht. Und doch – vor dem Bootsanleger hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Die Leute stehen herum und plaudern, ein fast mediterranes Bild. Die vielen bunten Briefkästen gleich daneben bilden eine lange Schlange. Ein Tuckern ist plötzlich zu hören, ein kleines rot-weißes Boot steuert auf den Anleger zu – das Postboot. Auf der schwedischen Ostseeinsel Hasselö im Tjuster Schärengarten ist Nebensaison. Touristen strömen nur in der kurzen Hauptsaison auf die Insel, die am Mittsommerwochenende beginnt und Mitte August mit den schwedischen Sommerferien auch schon wieder vorbei ist. Hasselö ist die größte der rund 5000 Inseln und Inselchen vor dem Städtchen Västervik, das in der Provinz Småland liegt. Astrid Lindgren, die aus Småland stammt, hat die Bullerbü-Idylle ihrer Heimat weltweit bekannt gemacht. Bullerbü oder Sevedstorp, wie das winzige Dorf 70 Kilometer von Hasselö eigentlich heißt, hat drei Höfe und zehn Einwohner. Auf Hasselö gibt es zurzeit 32 Einwohner, die das ganze Jahr über auf der Insel leben. Auf der kleinen Nachbarinsel Sladö wohnen fünf Menschen und ein Hund.
Während der Hauptsaison fährt das große Linienschiff „M/S Freden“zwischen Västervik und den Bullerbü-Inseln hin und her. Jetzt sind hingegen nur drei kleine Boote im Schärengarten unterwegs, auf denen zehn bis zwölf Leute Platz finden. Je nach Bedarf sind sie als Postboot, Schulboot oder Taxiboot im Einsatz. Dafür sind sie groß genug, da in der Nebensaison nur wenige Urlauber auf die Inseln kommen. Eine gute Zeit, den Alltag der Insulaner auf Hasselö und Sladö zu entdecken.
Auf Hasselö gibt es die einzige Unterkunft im Tjuster Schärengarten, die das ganze Jahr über geöffnet hat: das Hasselö Vandrarhem, eine Mischung aus Pension und Herberge. Das klassisch bullerbürot gestrichene Holzhaus war bis in die 1970er-Jahre die Schule der Insel, die Tafel von damals hängt noch im Speisesaal. Lina Johansson betreibt die Pension, zusammen mit ihrer Mutter. Die Journalistin und Mutter zweier Kinder kümmert sich auch um den Gästehafen, den Fahrrad-, Kajak- und Tretbootverleih und den Inselladen, der außerhalb der Saison nur nach Bedarf öffnet. Außerdem vermietet sie noch Stuga, kleine rote Ferienhäuschen mit Plumpsklo im Garten.
„Es gibt hier kaum jemanden, der mit nur einem Job seinen Lebensunterhalt verdienen kann“, sagt Lina Johansson. Die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten haben viel zum Einwohnerschwund beigetragen: Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden auf den beiden Inseln über 400 Menschen gezählt, Anfang 2015 waren es auf Hasselö nur noch 25. Aber vielleicht ist die Wende nun geschafft: „Seit 2015 sind sieben neue Leute hergezogen. Zwei von ihnen haben Arbeit im Restaurant meiner Schwägerin gefunden“, erzählt Lina Johansson.
Zu Fuß gelingt die Entschleunigung bei den Bullerbü-Insulanern sofort. Auch die Orientierung fällt leicht: Ein unbefestigter Weg verläuft von einem Ende der sieben Kilometer langen Insel bis zum anderen. Wiesen, Wälder, die Ostsee und viele rote Holzhäuser mit weißen Sprossenfenstern ziehen in Zeitlupe vorbei, dann verbindet eine kleine Holzbrücke Hasselö mit der nur zwei Kilometer langen Schwesterinsel Sladö. Im Fischerdorf schaukeln Fischreusen, die zum Trocknen aufgehängt sind, wie Hängematten hin und her. Gelbe Flechten und grüne Moose haben sich nicht nur auf den Bootsstegen breitgemacht, sondern auch auf den Steinhaufen im Wasser, die als Wellenbrecher dienen. Es scheint sich hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht viel verändert zu haben. Aus jener Zeit stammen vor allem die Fischerhäuser mit dem großen Dachüberstand, der Booten auf beiden Seiten des Hauses Schutz bietet.
Der Fischfang war früher neben der Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle auf den Bullerbü-Inseln. „1965 gab es noch 200 Fischer in der Region Västervik, heute sind es 20“, sagt Tomas Liew, der 18 Jahre als Fischer auf Sladö gearbeitet hat. „Bei uns gibt es nur noch zwei Fischer, die diesen Beruf ausüben. Einen auf Sladö und einen auf Hasselö.“Tomas Liew ist jetzt in Rente, aber er fischt natürlich immer noch. Manchmal nimmt er Urlauber mit an Bord oder zeigt ihnen die Insel. Er ist sich sicher, warum manche Gäste außerhalb der Saison nach Hasselö und Sladö kommen: „Sie wollen ein paar Tage leben wie ein Insulaner.“