„Nur das Erdichtete reißt mich mit“
Ein außergewöhnlich versierter Leser gibt darüber Auskunft, worauf bei seiner Lieblingsbeschäftigung zu achten ist.
„100 Seiten am Tag brauche ich“, versichert der passionierte Leser Michael Orthofer. Mit weniger auszukommen sei für ihn so, wie eine Mahlzeit auszulassen oder wenig zu schlafen. Der gebürtige Grazer, der in New York Jus studiert hat und nun in Massachusetts lebt, hat seinen Anwaltsberuf aufgegeben und dafür seine Lieblingsbeschäftigung zum Beruf gemacht. Seine seit 1999 betriebene Website www.complete-review.com hat er bisher mit 4419 Rezensionen bestückt. Am Sonntag schilderte er in den Schauspiel-Recherchen der Salzburger Festspiele, wie er zum Fazit kommt: „Es gibt kein falsches Lesen.“
Dabei legte er ein Bekenntnis für den Roman ab. Ein Sachbuch habe durchaus informativen Wert, doch nur „das Erdichtete, der Ausdruck der menschlichen Fantasie“reiße ihn mit. Erzählende Prosa zu lesen bedeute für ihn keine Flucht aus dem Alltag, sondern sei eine „kreative Auseinandersetzung mit der Welt um mich, die ich mir so nicht hätte vorstellen können“. Daher sei das Lesen „nur vermeintlich passiv“. Tatsächlich erfordere es Aufmerksamkeit und Ausdauer, um in die von einem Autor erlebte und erdachte Welt vorzudringen. Und es sei oft mindestens so anregend wie Reisen.
Kurzgeschichten und Erzählungen hätten ihren Reiz. Aber sie seien „nur Happen“– ab und zu köstlich, „aber nicht genug“. Gedichte wie von Georg Trakl oder Rainer Maria Rilke könnten eine „unglaubliche Gewalt der Sprachwirkung“entfalten, seien aber nur Momentaufnahmen – wie Gemälde. Texte in derart überwältigender Perfektion zu lesen, sei zu erschöpfend. Daraus folgert Michael Orthofer: „Wenn ich über Lesen spreche, ist es ein Plädoyer für den Roman.“
In diesen könne man sich vertiefen und darin „sogar verlieren“. Während man ein Gedicht wortgetreu wiedergeben und eine Kurzgeschichte sinngetreu nacherzählen könne, sei dies bei einem Roman kaum möglich. „Der Roman kann bildhaft in Erinnerung bleiben, man erinnert sich an gewisse Sätze“, aber für Substanz und Vollständigkeit brauche man den Text, sodass das „Buch notwendig ist“.
An einem Roman fasziniere ihn zudem, dass er Schöpfung eines einzigen Menschen sei. Sogar wenn es von Georges Simenon heiße, er habe einen Roman in einer Woche geschrieben, so seien dem lange Gedanken vorausgegangen. „Egal wie simpel der Text erscheinen mag – der Autor hat sich mehr Mühe geben müssen, als ich beim Lesen.“
Wie findet man Lesestoff? Dafür empfiehlt Orthofer, jede Pflicht abzulegen – sei es „Pflichtlektüre“nachzuholen oder das lesen zu müssen, worüber andere reden. Ihm falle die Wahl eines Buches
„Es ist wichtig, dass wir wählerisch bleiben.“Michael Orthofer, Romanleser
meist schwer, oft verbringe er viele Stunden mit Überlegungen. Noch schwieriger seien Tipps für andere. Es gehe ja nicht um irgendein Buch, sondern um jenes, „das der andere gerade jetzt braucht“. Helfen könnten Rezensionen, wobei darauf zu achten sei, dass sie nicht in Auftrag (von Verlagen, Anm.) verfasst seien, ebenso Klassiker, wie die in Henry Millers „Kunst des Lesens“1952 aufgelisteten 100 einflussreichsten Bücher, oder ein Blick in die von Philip Roth in den 1970er- und 80erJahren editierte Reihe über Autoren des anderen Europas, des einstigen Osteuropas. „Wir bräuchten mehr solche Persönlichkeiten, die das Unterschätzte und Vergessene ins Rampenlicht setzen“, stellt Michael Orthofer fest, und: „Es ist wichtig, dass wir wählerisch bleiben.“