Maharadscha entschied sich für Indien
Eine vor mehr als 70 Jahren getroffene Entscheidung machte Kaschmir zum Zankapfel zwischen Pakistan und der Indischen Union. Jetzt hat Delhi die Teilautonomie der Region aufgehoben und damit den Konflikt neu angefacht.
Als am 14. August 1947 zunächst das unabhängige und überwiegend muslimische Pakistan ausgerufen wurde und einen Tag später Indien mit seiner hinduistischen Mehrheit entstand, mussten insgesamt 550 Fürstentümer des Subkontinents entscheiden, welchem Staat sie sich anschließen wollten. Kaschmir gehörte wie sie zu den Gebieten, über die die Kolonialmacht Großbritannien nie direkt geherrscht hatte. Aber im Gegensatz zu den anderen Fürsten wollte Maharadscha Hari Singh, ein Hindu, der über die muslimische Mehrheit von Kaschmir herrschte, die Unabhängigkeit.
Die Extrawurst sorgte für jahrzehntelange Konflikte. Die massiven religiösen Auseinandersetzungen mit Millionen von Toten, die damals die Teilung des südasiatischen Subkontinents in Indien und Pakistan begleiteten, wurden ebenfalls zu einem verhängnisvollen Erbe, das bis heute das Verhältnis zwischen Delhi und Islamabad belastet – und die Lage in Kaschmir bestimmt. Während Pakistan als neue muslimische Nation ungeduldig erst einmal paschtunische Stammeskrieger über die Grenze schickte, um ganz Kaschmir heim in die muslimische Nation zu holen, unterzeichnete Maharadscha Singh eine Vereinbarung über den Beitritt zu Indien, das dem Gebiet zwar keine Unabhängigkeit, aber Autonomie zugestand. Es folgten drei weitere Kriege. 1965 ging es um Kaschmir. 1971 war die Unabhängigkeitsbewegung im damaligen Ostpakistan, dem heutigen Bangladesch, der Auslöser. 1999 teilweise wollte der spätere pakistanische Diktator General Pervez Musharraf die indische Seite schlichtweg blamieren. Erst als US-Präsident Bill Clinton sich persönlich einschaltete, war der damalige Armeechef Musharraf zum Rückzug bereit.
Pakistan sah sich in seiner ganzen Geschichte als Schutzpatron seiner muslimischen Glaubensbrüder in Indien und verwand es nie, dass Millionen von Muslimen bei der Teilung in Indien blieben. Kaschmir war und ist für Pakistan das lebende Symbol seiner selbst gewählten Verteidigerrolle.
Der Regierung in Delhi galt die Region hingegen als wichtiges Symbol der indischen Vielvölkernation mit ihren zahlreichen Minderheiten, verschiedenen Religionen und Sprachen.
Dabei wurde in beiden Hauptstädten gelogen. Denn während Islamabad ohne großes Federlesen einen Teil Kaschmirs an China abtrat, brauchen die Generäle in Pakistan den indisch kontrollierten Teil Kaschmirs und die indische Bedrohung zur Rechtfertigung ihrer privilegierten Stellung. Sie kontrollieren immerhin rund die Hälfte der formalen Wirtschaft des Landes.
Indien mit seinen inzwischen 1,3 Milliarden Einwohnern, das 1947 nur widerwillig der Teilung zugestimmt hatte, dagegen verabschiedete sich nie völlig von dem unrealistischen Traum, eines Tages Pakistan von der Landkarte fegen zu können. Kaschmir diente Delhi gegenüber Pakistan als ewige Erinnerung an die indische Überlegenheit.
Die plötzliche Abschaffung des 70 Jahre alten Status quo durch Indiens hindunationalistischen Premierminister Narendra Modi gehört teilweise in die jahrzehntealte Tradition der Provokationen gegenüber Pakistan. Aber Modi will nicht nur gegen Islamabad sticheln, sondern in erster Linie der eigenen Bevölkerung und der Welt mitteilen: Eine neue Zeit bricht an. Manche mögen sie „India First“nennen. In der Praxis gilt: Hinduisten zuerst.
Die Kaschmiris werden wieder einmal nicht befragt – ganz so, wie es während der vergangenen Jahrzehnte zur Gewohnheit geworden ist. Wie sie denken, wird dem Besucher freilich oft schon bei den ersten Begegnungen deutlich. „Sie kommen aus Indien“, antworten Kaschmiris gerne kritisch auf den Hinweis, man wohne in Delhi.