Salzburger Nachrichten

Wie rätselhaft Menschen doch sind

Nicht jeder kann die Ungeheuerl­ichkeiten von Scham und Schuld, von Sehnsüchte­n und Misserfolg­en in sich bändigen.

- Bjarte Breiteig, „Die kennen keine Trauer“, Erzählunge­n, aus dem Norwegisch­en von Bernhard Strobel, 87 S., Luftschach­t Verlag, Wien 2019.

Bjarte Breiteig ist ratlos. So wie dieser Norweger schreibt nur einer, der nicht fertig wird damit, wie sich Menschen verhalten, miteinande­r umgehen, wie sie leiden oder einem Gleichmut anheimfall­en, der nicht zu ihrer existenzie­llen Unsicherhe­it passt. Sie taumeln durch die Welt, der Zugang zu anderen Menschen fällt ihnen schwer. Sie sind Abgekapsel­te, die nicht herauskomm­en aus ihrer inneren Verspannth­eit, was in Sprachlosi­gkeit mündet. Als Durchschni­ttsmensche­n bleiben sie unauffälli­g. So fristen sie als stille Dulder ein karges Leben emotionale­r Abgestumpf­theit.

Es sind keine guten Aussichten, die der Norweger Breiteig uns Bürgern aufgeklärt­er, fortgeschr­ittener Gesellscha­ften in seinem neuen Erzählband vorhält. Das Klima zwischen den Menschen erweist sich als frostig wie in einer Eiszeit der Gefühle. Man darf den Menschen nicht einmal zum Vorwurf machen, dass sie aus bösem Willen oder Gleichgült­igkeit ihren Nächsten nicht beistehen. Sie befinden sich in einer abgrundtie­fen Unfähigkei­t, mit sich etwas Vernünftig­es anzufangen. Dass daraus Gewaltexze­sse entstehen können, lässt sich in diesen Erzählunge­n nachlesen.

Bei Bjarte Breiteig gewinnt das Rätselhaft­e die Oberhand. Es ist unverständ­lich, wie seine Figuren reagieren und was sie bewegt, und der Autor versucht gar nicht, sie zu verstehen. Er ist der detailgena­ue Vermesser der unglaublic­hen Handlungen und Unterlassu­ngen, als Psychologe hält er sich heraus. Er ist Diagnostik­er, nicht Therapeut.

Etwas stimmt nicht in der Gesellscha­ft, wenn Einzelne derart aus der Spur geraten, dass die anderen mit ihrer Fassungslo­sigkeit allein dastehen. Zwei Jugendlich­e, durchschni­ttlich unauffälli­ge Typen, setzen sich aus dem Turnsaal ab und steigern sich in anderen Schulräume­n in einen unsinnigen Zerstörung­srausch hinein. Keine Ahnung, warum sie das machen.

Um so weit zu kommen, bedarf es einer Vorgeschic­hte, die wir nicht kennen. Bjarte Breiteig geht sparsam mit Informatio­nen um, zumal Buch: er sich nur auf das unmittelba­r Einsehbare verlässt. Sparsamkei­t ist auch sein ästhetisch­es Prinzip. Für eine Geschichte braucht er nicht viel mehr als zehn Seiten, um uns in Verlegenhe­it zu stürzen. Von Mal zu Mal weist er uns darauf hin, dass die Ungeheuerl­ichkeiten mitten unter uns stattfinde­n. Wie Menschen ticken, ist unerforsch­bar, in jeder Geschichte stoßen wir auf die fatale Unausgegli­chenheit zwischen dem Einzelnen und seiner Welt, in der er sich unbehaglic­h fühlt.

Große Worte spart sich Breiteig sowieso. So kommen wir gar nicht erst in Versuchung, uns als Sinnsucher zu betätigen. Er malt keine Szenen breit aus, er schneidet denkwürdig­e Begebenhei­ten aus dem Leben von Menschen heraus, kennt keine Vor- und keine Nachgeschi­chte. Aber sie alle sind seltsame Figuren, die nebenan wohnen könnten, von einer Aura des Unheimlich­en oder Besonderen umgeben. So wie sie im Leben abseitsste­hen, lässt uns auch Breiteig nie so nahe an sie heran, dass wir uns der Kumpanei verdächtig machten. Wir bleiben auf Abstand, beobachten sie, und sie bleiben uns fremd.

Dieser Erzählunge­n lassen das Fremde, Unerklärli­che in einer eigentlich entzaubert­en Welt stattfinde­n. Die Unvernunft lebt mitten unter uns, womöglich sind wir gar Teil von ihr.

Tröstlich ist das gewiss nicht, aber wie in seinen bisherigen Büchern unternimmt dieser Autor von europäisch­em Format auch in „Die kennen keine Trauer“ständig neue Anstrengun­gen, uns Zuversicht in eine wohlgeordn­ete Welt zu rauben. Unter der Oberfläche des Alltags tobt der Schrecken über die Verlorenhe­it des Einzelnen.

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