Wie rätselhaft Menschen doch sind
Nicht jeder kann die Ungeheuerlichkeiten von Scham und Schuld, von Sehnsüchten und Misserfolgen in sich bändigen.
Bjarte Breiteig ist ratlos. So wie dieser Norweger schreibt nur einer, der nicht fertig wird damit, wie sich Menschen verhalten, miteinander umgehen, wie sie leiden oder einem Gleichmut anheimfallen, der nicht zu ihrer existenziellen Unsicherheit passt. Sie taumeln durch die Welt, der Zugang zu anderen Menschen fällt ihnen schwer. Sie sind Abgekapselte, die nicht herauskommen aus ihrer inneren Verspanntheit, was in Sprachlosigkeit mündet. Als Durchschnittsmenschen bleiben sie unauffällig. So fristen sie als stille Dulder ein karges Leben emotionaler Abgestumpftheit.
Es sind keine guten Aussichten, die der Norweger Breiteig uns Bürgern aufgeklärter, fortgeschrittener Gesellschaften in seinem neuen Erzählband vorhält. Das Klima zwischen den Menschen erweist sich als frostig wie in einer Eiszeit der Gefühle. Man darf den Menschen nicht einmal zum Vorwurf machen, dass sie aus bösem Willen oder Gleichgültigkeit ihren Nächsten nicht beistehen. Sie befinden sich in einer abgrundtiefen Unfähigkeit, mit sich etwas Vernünftiges anzufangen. Dass daraus Gewaltexzesse entstehen können, lässt sich in diesen Erzählungen nachlesen.
Bei Bjarte Breiteig gewinnt das Rätselhafte die Oberhand. Es ist unverständlich, wie seine Figuren reagieren und was sie bewegt, und der Autor versucht gar nicht, sie zu verstehen. Er ist der detailgenaue Vermesser der unglaublichen Handlungen und Unterlassungen, als Psychologe hält er sich heraus. Er ist Diagnostiker, nicht Therapeut.
Etwas stimmt nicht in der Gesellschaft, wenn Einzelne derart aus der Spur geraten, dass die anderen mit ihrer Fassungslosigkeit allein dastehen. Zwei Jugendliche, durchschnittlich unauffällige Typen, setzen sich aus dem Turnsaal ab und steigern sich in anderen Schulräumen in einen unsinnigen Zerstörungsrausch hinein. Keine Ahnung, warum sie das machen.
Um so weit zu kommen, bedarf es einer Vorgeschichte, die wir nicht kennen. Bjarte Breiteig geht sparsam mit Informationen um, zumal Buch: er sich nur auf das unmittelbar Einsehbare verlässt. Sparsamkeit ist auch sein ästhetisches Prinzip. Für eine Geschichte braucht er nicht viel mehr als zehn Seiten, um uns in Verlegenheit zu stürzen. Von Mal zu Mal weist er uns darauf hin, dass die Ungeheuerlichkeiten mitten unter uns stattfinden. Wie Menschen ticken, ist unerforschbar, in jeder Geschichte stoßen wir auf die fatale Unausgeglichenheit zwischen dem Einzelnen und seiner Welt, in der er sich unbehaglich fühlt.
Große Worte spart sich Breiteig sowieso. So kommen wir gar nicht erst in Versuchung, uns als Sinnsucher zu betätigen. Er malt keine Szenen breit aus, er schneidet denkwürdige Begebenheiten aus dem Leben von Menschen heraus, kennt keine Vor- und keine Nachgeschichte. Aber sie alle sind seltsame Figuren, die nebenan wohnen könnten, von einer Aura des Unheimlichen oder Besonderen umgeben. So wie sie im Leben abseitsstehen, lässt uns auch Breiteig nie so nahe an sie heran, dass wir uns der Kumpanei verdächtig machten. Wir bleiben auf Abstand, beobachten sie, und sie bleiben uns fremd.
Dieser Erzählungen lassen das Fremde, Unerklärliche in einer eigentlich entzauberten Welt stattfinden. Die Unvernunft lebt mitten unter uns, womöglich sind wir gar Teil von ihr.
Tröstlich ist das gewiss nicht, aber wie in seinen bisherigen Büchern unternimmt dieser Autor von europäischem Format auch in „Die kennen keine Trauer“ständig neue Anstrengungen, uns Zuversicht in eine wohlgeordnete Welt zu rauben. Unter der Oberfläche des Alltags tobt der Schrecken über die Verlorenheit des Einzelnen.