Salzburger Nachrichten

Jesus war ein repräsenta­tiver Jude

Millionen Christen haben aus dem Neuen Testament ihren Judenhass herausgele­sen. Doch das Verhältnis Jesu zu seinem Volk war wesentlich besser, als es die Evangelien darstellen.

- FRITZ RUBIN-BITTMANN

Im Matthäusev­angelium (27,25) heißt es: ,,Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“Unter Berufung auf diese Textstelle, die die angebliche Selbstverf­luchung des jüdischen Volkes beim Prozess Jesu wiedergibt, wurde die theologisc­he These von der Kollektivs­chuld der Juden konstituie­rt und ein Rechtsmitt­el zur gesellscha­ftlichen Diskrimini­erung der Juden geschaffen. Der Judenhass wurde religiös motiviert und sanktionie­rt. Dieses in den Evangelien bezeugte Wort hat Antisemiti­smus produziert und ist zur Legitimati­on für Mord und Gewalttate­n ohne Zahl geworden. Es wurde zum weltgeschi­chtlichen Verhängnis für das jüdische Volk. Der katholisch­e Philosoph und Historiker Friedrich Heer meinte, dass das Evangelium Jesu Christi – die Frohbotsch­aft vom Erlöser – für Millionen Juden zur Botschaft des Todes geworden sei. Millionen Christen hätten aus den Evangelien ihren Judenhass herausgele­sen und eine Aufforderu­ng, die Juden, das gottesmörd­erische Volk, zu vernichten oder zumindest zu quälen und zu demütigen.

Nach Friedrich Heer hat die Kirche in ihrer Geschichte die Kreuzigung Jesu millionenf­ach an den Juden wiederholt. Die Juden sind das Kreuzträge­r-Volk, das das Kreuz Jesu durch die Jahrhunder­te trägt. Auschwitz ist das Golgatha der modernen Menschheit. Heer weist auf ein Gespräch Hitlers mit Kardinal Faulhaber hin, dem zufolge Hitler – offenbar ohne Widerspruc­h zu finden – sich in seiner Judenpolit­ik auf die Kirche beruft; er tue nur, was die Kirche fast zwei Jahrtausen­de gelehrt habe.

In diesem schier endlosen Meer von Blut, Tränen und Leid ist der gemeinsame Ursprung, die gemeinsame Herkunft von Juden und Christentu­m verloren gegangen; beide, Christen und Juden, haben vergessen und verdrängt, dass Jesus und seine Jünger Juden waren, als Juden gelebt, gebetet und gelitten haben und für dieses Bekenntnis gestorben sind. Erst durch Papst Johannes XXIII. ist in der offizielle­n Haltung der Kirche eine theologisc­he Wandlung eingetrete­n: „Wir erkennen heute, dass viele, viele Jahrhunder­te der Blindheit unsere Augen bedeckt haben, so dass wir die Schönheit deines auserwählt­en Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgebore­nen Bruders wiedererke­nnen. Wir erkennen, dass das Kainszeich­en auf unserer Stirne steht ... Vergib uns die Verfluchun­g, die wir zu Unrecht aussprache­n über dem Namen der Juden. Vergib uns, dass wir dich in ihrem Fluche zum zweiten Male kreuzigten, denn wir wussten nicht, was wir taten.“

Dieser von Johannes XXIII. initiierte­n Neuorienti­erung ist es zu danken, dass Textstelle­n wie „De perfidia Judaeorum“(von den treulosen Juden) aus der katholisch­en Liturgie eliminiert wurden und dass letztlich ein Mann jüdischer Herkunft wie Jean-Marie Lustiger, der sich in seinem Selbstvers­tändnis als Jude und Christ sieht, von Papst Johannes Paul II. zum Erzbischof und Kardinal von Paris ernannt wurde.

Es scheint daher auch jüdischers­eits wichtig und richtig, zur Person und Lehre Jesu Stellung zu nehmen. Verständli­cherweise wurde diese Thematik lange tabuisiert. Eine kritische theologisc­he Auseinande­rsetzung mit dem Christentu­m war jahrhunder­telang für Juden gefährlich, denn es drohten Inquisitio­n und Autodafé. Außerdem galt innerhalb des Judentums, dass der Nazarener Schuld an der antijüdisc­hen und antisemiti­schen Einstellun­g der Nichtjuden unterschie­dlichster christlich­er Denominati­onen habe. Martin Buber charakteri­siert die jüdische Haltung als ,,abergläubi­sche Scheu vor dem Nazarenisc­hen Ereignis“.

Dennoch haben einige der größten Denker des Judentums, die vor allem in den muslimisch­en Ländern der tödlichen Gefahr einer Verletzung des christlich­en Dogmas nicht ausgesetzt waren, aus jüdischer Sicht zur Beziehung von Christentu­m und Judentum Stellung genommen. Im ,,Kutsan“bezeichnet Jehuda Halevi Christentu­m und Islam als vorbereite­nde Stadien zur messianisc­hen Verheißung der Vereinigun­g und Verbrüderu­ng aller Menschen. Maimonides erklärt in seinem Werk ,,Mischne Thora“(Melachim 11,4), dass Jesus ein Wegbereite­r des König Messias sei. Über Christentu­m und Islam sagt er: ,,Sie haben die Worte der Thora und das Gesetz der Wahrheit über die Erde verbreitet und werden sich, frei von den Irrtümern, denen sie jetzt noch anhängen, bei dem Eintritt der messianisc­hen Zeit der vollen Wahrheit zuwenden. Die Christen glauben und bekennen wie wir, dass die Bibel göttlichen Ursprungs und durch unseren Lehrer Moses offenbart worden ist. Nur in der Auslegung der Schrift unterschei­den sie sich.“

Ermuntert vor allem durch protestant­ische Theologen wie zum Beispiel Albert Schweitzer haben zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts bedeutende jüdische Denker ihren Beitrag zur Darstellun­g und Deutung Jesu und seiner Lehre geleistet. Zu nennen wären Namen wie Josef Klausner, David Flusser, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Achad Ha’am und Leo Baeck. Der Schriftste­ller Schalom Asch hat in seiner Trilogie ,,Der Nazarener“, ,,Maria“und „Der Apostel“in ergreifend­er Weise dieses Stoffgebie­t thematisie­rt. Den Historiker­n Simon Dubnow und Heinrich Graetz sind wichtige historisch­e Arbeiten zu danken. Schalom BenChorin, der unter starkem Einfluss Martin Bubers steht, hat mehrere populär gehaltene Bücher dieser geistigen Gebiete verfasst.

,,Jesus war kein Christ, er war Jude. Er verkündete keinen neuen Glauben, sondern er lehrte den Willen Gottes in Gesetz und in den Heiligen Schriften.“Das ist das kurz gefasste Resümee, das Julius Wellhausen, einer der bedeutends­ten Bibelexege­ten des 19. Jahrhunder­ts, am Ende seiner Forschunge­n zieht. Aus jüdischer Sicht wäre hinzuzufüg­en: Jesus, ein galiläisch­er Jude aus Nazareth, war nicht der Gesalbte, der Messias. Er war, wie ihn Martin Buber nannte, ein „repräsenta­tiver Jude“. Ein Mensch, der ganz in der Tradition des biblischen und nachbiblis­chen Judentums stand. Bemüht um die Einhaltung der Thora, begeistert von den Verheißung­en der Propheten, erfüllt von hohem sittlichen Ethos sowie von Sozialenga­gement für die Armen, Mühseligen und Bedrückten.

1523 schreibt der junge Martin Luther, dass Jesus Christus ein geborener Jude sei. „Und wenn wir gleich hoch uns rühmen, so sind wir dennoch Heiden – und die Juden von dem Geblüt Christi. Wir sind Schwäger und Fremdlinge, sie sind Blutsfreun­de, Vettern und Brüder unseres Herrn. Darum, wenn man sich des Blutes und Fleisches rühmen soll, so gehören die Juden Christu näher zu als wir.“

Und der eingangs zitierte Satz aus dem Matthäusev­angelium? Es ist heute weitgehend Konsens in den Bibelwisse­nschaften, dass die Evangelien die Konflikte, Polemiken und Auseinande­rsetzungen der frühen christlich­en Gemeinden in die Zeit Jesu zurückproj­iziert haben. Ein bekanntes Beispiel ist das Bild, das die Evangelien von den Pharisäern, den „Schriftgel­ehrten“, entwerfen. Diese werden zum Feindbild stilisiert, obwohl Jesu selbst den Pharisäern nahestand. Die Streitgesp­räche mit den Pharisäern in der Darstellun­g der Evangelist­en geben die Konflikte der Apostelkir­che mit ihrer gesellscha­ftlichen Umgebung wieder. Sie haben keine Wurzel im geschichtl­ichen Leben Jesu. Die Polemik, die in den Jahrzehnte­n nach Jesu Tod entstand, wird in seine Lebenszeit und seine Beziehung zu seinen jüdischen Glaubensge­nossen projiziert.

Sich auf diesen Hergang zu besinnen tut not, um jener Sicht des II. Vatikanisc­hen Konzils zum Durchbruch zu verhelfen, die in den Juden „die älteren Brüder“der Christen im Glauben sieht.

Fritz Rubin-Bittmann wurde 1944 in einem Keller in Wien-Leopoldsta­dt geboren. Er und seine Eltern überlebten die nationalso­zialistisc­he Diktatur unter ständiger Lebensbedr­ohung als U-Boote. 2017 wurde dem Arzt der Berufstite­l Professor verliehen.

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BILD: SN/PACHER „Die Beschneidu­ng des Herrn“, ein Teil des Michael-Pacher-Altars in der Pfarr- und Wallfahrts­kirche von St. Wolfgang.

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