Gute Aussichten im Alter
ICHbin 56 Jahre alt und altersweitsichtig. Seit ein paar Jahren kann ich nicht mehr ohne Brille lesen. Anfangs war das eine große Umstellung, mittlerweile habe ich mich dran gewöhnt, dass Buchstaben und Zahlen vor meinen Augen verschwimmen, wenn ich keine Brille aufhabe. Ich finde, das Schicksal des Alters kann einen härter treffen, auch wenn es manchmal lästig ist, zum Beispiel im Sommer. Wenn man eine Sonnenbrille aufhat und denkt, man könnte damit auch lesen.
Aber das Alter erfasst auch andere Sinnesorgane, wie das Ohr. Ja, ich höre schlechter, wie meine Söhne nicht müde werden zu betonen. Es hat aber auch sein Gutes, wenn man nicht so gut hört. Man redet mehr miteinander, weil man öfter nachfragt. Meine Gesprächspartner nervt das manchmal, aber das überhöre ich. Ich habe auch die Kränkung weggesteckt, als die Hautärztin bei der
Muttermalkontrolle meinen Fingerzeig auf eine leicht erhöhte dunkelbraune Stelle mit der Aussage quittierte: „Das ist nichts Schlimmes, nur eine Alterswarze.“Seither weiß ich, mit dem Alter muss man sich eine dicke Haut zulegen.
Zurück zur Weitsichtigkeit. Auf die kurze Distanz sieht man im Alter zwar schlechter, angeblich wird man nachsichtiger. Weil man schon viel gesehen hat und sich daher nicht mehr so rasch aufregt. Und vielleicht auch, weil man sich im Leben immer zwei Mal sieht.
Dass man im Alter weitsichtig wird, ist eine wenig erfreuliche Tatsache. Ein wenig schwingt dabei allerdings die Hoffnung mit, dass mit den Jahren auch der Weitblick geschärft wird. Apropos: Es ist interessant, dass die Unterscheidung von Sicht und Blick immer wieder Probleme aufwirft. Besonders ergiebig sind in dieser Beziehung Inserate, in denen Immobilien angepriesen werden. So wurde dieser Tage in Wien ein Penthouse mit Weitblick feilgeboten. Es wäre möglicherweise weitblickend, ein Penthouse zu kaufen, aber wer sich eins leisten kann, zieht wohl eines mit Fernsicht vor. Sehr beliebt ist auch die uneinsichtige Terrasse. Mir wäre eine lieber, die uneinsehbar ist. Geschützt vor neugierigen Blicken aus nah und fern, könnte man tun und lassen, was man will. Aber es gibt ja mittlerweile denkende Häuser, die mit ebensolchen Geräten ausgestattet sind. Wer weiß, vielleicht gibt es schon Terrassen und Balkone, die einen eigenen Willen entwickeln und hin und wieder völlig uneinsichtig sind.
Die rasante Technisierung im Haushalt bietet für das Alter neue Perspektiven. Umgeben von Geräten mit Weitblick, die die Arbeit selbstständig erledigen und dafür sorgen, dass sich der Kühlschrank von selbst füllt, kann man auf dem uneinsichtigen Balkon entspannt in die Luft oder ins Buch schauen. Gute Aussichten.