Salzburger Nachrichten

Gute Aussichten im Alter

- Richard Wiens

ICHbin 56 Jahre alt und altersweit­sichtig. Seit ein paar Jahren kann ich nicht mehr ohne Brille lesen. Anfangs war das eine große Umstellung, mittlerwei­le habe ich mich dran gewöhnt, dass Buchstaben und Zahlen vor meinen Augen verschwimm­en, wenn ich keine Brille aufhabe. Ich finde, das Schicksal des Alters kann einen härter treffen, auch wenn es manchmal lästig ist, zum Beispiel im Sommer. Wenn man eine Sonnenbril­le aufhat und denkt, man könnte damit auch lesen.

Aber das Alter erfasst auch andere Sinnesorga­ne, wie das Ohr. Ja, ich höre schlechter, wie meine Söhne nicht müde werden zu betonen. Es hat aber auch sein Gutes, wenn man nicht so gut hört. Man redet mehr miteinande­r, weil man öfter nachfragt. Meine Gesprächsp­artner nervt das manchmal, aber das überhöre ich. Ich habe auch die Kränkung weggesteck­t, als die Hautärztin bei der

Muttermalk­ontrolle meinen Fingerzeig auf eine leicht erhöhte dunkelbrau­ne Stelle mit der Aussage quittierte: „Das ist nichts Schlimmes, nur eine Alterswarz­e.“Seither weiß ich, mit dem Alter muss man sich eine dicke Haut zulegen.

Zurück zur Weitsichti­gkeit. Auf die kurze Distanz sieht man im Alter zwar schlechter, angeblich wird man nachsichti­ger. Weil man schon viel gesehen hat und sich daher nicht mehr so rasch aufregt. Und vielleicht auch, weil man sich im Leben immer zwei Mal sieht.

Dass man im Alter weitsichti­g wird, ist eine wenig erfreulich­e Tatsache. Ein wenig schwingt dabei allerdings die Hoffnung mit, dass mit den Jahren auch der Weitblick geschärft wird. Apropos: Es ist interessan­t, dass die Unterschei­dung von Sicht und Blick immer wieder Probleme aufwirft. Besonders ergiebig sind in dieser Beziehung Inserate, in denen Immobilien angepriese­n werden. So wurde dieser Tage in Wien ein Penthouse mit Weitblick feilgebote­n. Es wäre möglicherw­eise weitblicke­nd, ein Penthouse zu kaufen, aber wer sich eins leisten kann, zieht wohl eines mit Fernsicht vor. Sehr beliebt ist auch die uneinsicht­ige Terrasse. Mir wäre eine lieber, die uneinsehba­r ist. Geschützt vor neugierige­n Blicken aus nah und fern, könnte man tun und lassen, was man will. Aber es gibt ja mittlerwei­le denkende Häuser, die mit ebensolche­n Geräten ausgestatt­et sind. Wer weiß, vielleicht gibt es schon Terrassen und Balkone, die einen eigenen Willen entwickeln und hin und wieder völlig uneinsicht­ig sind.

Die rasante Technisier­ung im Haushalt bietet für das Alter neue Perspektiv­en. Umgeben von Geräten mit Weitblick, die die Arbeit selbststän­dig erledigen und dafür sorgen, dass sich der Kühlschran­k von selbst füllt, kann man auf dem uneinsicht­igen Balkon entspannt in die Luft oder ins Buch schauen. Gute Aussichten.

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