Das Ziegenglöckchen
Theaterwandern im Montafon. Über den Berg auf den Spuren der Flüchtlinge vor dem NS-Regime.
Morgens um neun läutet Wanderführer Friedrich Juen vor der Dorfkirche sein Glöckchen, das Zeichen zum Aufbruch. Sonnenmilch, Regenschutz und Proviant sowie festes Schuhwerk seien vonnöten, hieß es. Gute Kondition jedenfalls auch. Es gilt, in den nächsten Stunden 500 Höhenmeter zu bezwingen, bis auf 1900 Metern, kurz oberhalb der Baumgrenze, auf der Oberen Röbialpe die verdiente Rast wartet. Ein grandioses Panorama bietet sich hier, auf der einen Seite das Gargellental, auf der anderen die noch schneebedeckten Gipfel, hinter denen die Schweiz liegt. Im Montafon in Vorarlberg haben ein umtriebiger Dorfhistoriker und eine engagierte Theatertruppe Kultur und Tourismus auf eindrucksvolle Weise zusammengebracht. „Auf der Flucht“heißt das Projekt, bei dem Urlauber seit einigen Jahren auf den Spuren von Menschen wandern, die während der NS-Diktatur geflohen sind. „Wir suchen Orte auf, an denen sich schicksalhafte Szenen abgespielt haben“, erklärt Katharina Grabher, Schauspielerin des „teatro caprile“. So wird mitten in der Hauptreisezeit in Gargellen der Schleier des Vergessens über einem dunklen Kapitel der Vergangenheit gelüftet.
Und so mischen sich in den Genuss der Berglandschaft immer wieder die Bilder und Worte der bisherigen Stationen dieser Theaterwanderung, die tastenden, zittrigen Hände der entkräfteten Frau, die versucht, die Mauern des Schweinetrogs zu überwinden. Worte von Erniedrigung und vom Verlust der Würde. Der schneidende Ton eines Mannes, der überraschend mit seiner Peitsche hinter einem Baum hervortritt und die Wanderer anherrscht, sich zusammenzudrängen und zuzuhören. Der gespielte NSScherge bringt die Wanderer dazu, sich plötzlich in der Rolle eines flüchtenden Juden zu sehen. Ein Schweizer Zöllner, der zunächst alle Pässe kontrolliert, streitet mit dem Nazi um die Aufnahme. „Wir können sie ebenso wenig gebrauchen wie ihr.“Und da waren gerade noch die zwei Frauen, die in einem leeren Stall aufgewacht sind und die Schönheit der Natur bewundern, sich dann aber doch auf ihren Weg machen. Kurz danach stürmt der uniformierte Verfolger herein: „Habt ihr zwei Frauen gesehen?“Keiner der Wanderer antwortet. Da zeigt er mit seiner Peitsche auf eine Frau aus dem Publikum: „Hast du Kinder?“Sie bejaht. „Sollen sie denn ihre Mutter behalten“, fragt er drohend. Es kostet nur eine kurze Überwindung, um in dieser Situation die Flüchtenden nicht zu verraten. Aber was wäre, wenn kein Theater gespielt würde?
„Es ist uns wichtig, dass sich die Zuschauer fragen, wie hätte ich reagiert“, bemerkt Katharina Grabher. Die Schauspielerin hat mit ihrem Mitspieler und Regisseur Andreas Kosek das künstlerische Konzept entwickelt. Unterstützt werden die beiden von drei Laiendarstellern. Initialzündung war das Buch, das Friedrich Juen über die Geschichte Gargellens geschrieben hat, in den Hauptrollen Schmuggler und Flüchtlinge. „Mein Großonkel Meinrad war ein sehr erfolgreicher Fluchthelfer“, blickt der Hobbyhistoriker zurück, der hauptberuflich für die Bergbahnen tätig ist. 42 Juden habe er nachweislich über die Grenze in den Bergen gebracht. Seinen Spuren folgt der Großneffe heute als Erzähler, der die historischen Fakten zu den einzelnen Szenen beisteuert. So erfährt man, dass die Flucht der beiden Frauen misslang und sie sich im Gefängnis erhängten.
„Mit Friedrichs Hilfe haben wir die passenden Spielstätten für ,Auf der Flucht‘ gefunden“, lobt die Schauspielerin die Zusammenarbeit, verarbeitet wurden Originaldokumente, Zeitzeugenberichte und literarische Texte. Neben Theodor Kramer und Franz Werfel wird Jura Soyfer zitiert, dessen Fluchtversuch in Gargellen scheiterte. Er starb 26-jährig im KZ Buchenwald.
In der letzten Szene wendet sich ein flüchtender Theaterkritiker in seiner Verzweiflung immer wieder an das Publikum. Er beklagt die Kulturlosigkeit und den Werteverfall. Nach quälenden Auseinandersetzungen mit einem Zöllner wird ihm und seinem Begleiter aber schließlich die Einreise in die Schweiz gewährt. Für ein Happy End wird das niemand halten. Man weiß eben, wie die Geschichte ausgegangen ist. Und man weiß auch, wie die Geschichten heute noch viel zu oft ausgehen.
Leicht erschöpft, aber voller nachhaltiger Eindrücke sitzen die Wanderer rund um den Tisch in der Hütte der Alpe Rongg, sprechen mit den Schauspielern und Friedrich Juen. Und erfahren von ihm endlich, was es mit dem Glöckchen, das zum Start der Wanderung geläutet wurde, für eine Bewandtnis hat. „Mein Großonkel hat das Ziegenglöckchen immer geläutet, wenn sich auf der Flucht Steine von den schmalen Wegen lösten. Die Zöllner sollten glauben, Tiere seien in der Nähe.“