„Jazz saugt alle Klänge in sich auf“
Wie findet Jazz zu neuer Größe? Eine 18-köpfige Band hat dafür Ideen. In Saalfelden feiert sie ihren Einstand.
SAALFELDEN. Sein neues Projekt habe er „durchaus auch aus Trotz“begonnen, erzählt Christian Muthspiel. Eine Bigband am Leben zu erhalten gilt im Jazz als immer schwierigere Kunst. In sein Orjazztra Vienna hat Muthspiel trotzdem sechs Musikerinnen und elf Musiker eingeladen. Beim 40. Jazzfestival Saalfelden feiert die Bigband Premiere. Oder ist es eher ein Kammerorchester? Als Jazzer, Komponist und Dirigent will Muthspiel in dem Projekt die Sensibilitäten von Klassik und Jazz auf einen Nenner bringen. Was beide Sphären eint und trennt, erzählt er im Interview.
SN: In Jazz oder Klassik sind Sie sonst meist abwechselnd unterwegs. Ist Ihr Orjazztra Vienna der Versuch, mit einer Jazzband wie mit einem Orchester zu arbeiten?
Christian Muthspiel: Das war sicher einer der Hauptgründe. Ich wollte an Jazz herangehen wie an klassische Partituren – nicht nur beim Komponieren, sondern auch in der Umsetzung. Bei den Proben arbeiten wir sehr intensiv an Klangfarben, Phrasierungen und Dynamik. Das fehlt mir bei Bigbands oft.
Ein anderer Grund war, dass ich sehr gern mit jungen Musikerinnen und Musikern arbeiten wollte und mit den Einflüssen, die in ihrem Spiel zu hören sind, sei es Hip-Hop oder Drum & Bass. Jazz ist ja eine Musik, die immer wie ein Schwamm die Klänge ihrer Umgebung aufsaugt und sich zu eigen macht. SN: Im Jazz entsteht Musik oft aus dem Moment, Sie komponieren aber exakte Vorgaben? Es sind sehr komplexe Partituren, ja. Die Freiräume gibt es in den Soli, aber auch sie unterbrechen die Stücke nicht, sondern sind ein dramaturgisch wichtiger Teil davon – vielleicht ähnlich wie in Konzerten für Soloinstrument und Orchester, nur dass die Solisten hier sehr individuell gestalten können. SN: Auch zur Mozartzeit haben Solisten oft improvisiert. Ja, ich denke, ein gut gespieltes Jazzsolo über harmonisch komplexe Strukturen ist durchaus vergleichbar mit einem Konzert in der Klassik, wo sich die Solisten da und dort auch ihre Freiräume nahmen. SN: Verwischen heute die Trennlinien zwischen Klassik und Jazz immer mehr? Einige Musiker im Orjazztra sind ja dort wie da zu Hause. Für die Musiker trifft das vielleicht eher zu, aber die Szenen sind immer noch eher getrennt. Es ist zum Beispiel schwer, Veranstalter zu finden, die mich als Dirigenten und als Jazzmusiker gleich wahrnehmen. Meist ist es ein Entweder-oder. Andererseits wünsche ich mir auch gar nicht, dass sich die Musizierhaltungen zu sehr angleichen. Im Jazz will man, dass jeder so individuell klingt wie möglich. Aber ein klassisches Orchester aus lauter Individualisten könnte man vergessen. Da besteht die hohe Kunst darin, dass sich Stimmen und Klangfarben hierarchisch unterordnen und die Streicher einen Sound haben, aus dem keiner heraussticht. SN: Sie haben die vielen Einflüsse erwähnt, mit denen Musiker heute aufwachsen. Liegt das an der YouTube-Ära, in der so viel Musik wie nie verfügbar ist? Natürlich hat sich viel verändert: Jemand schickt mir einen YouTubeLink und eine Minute später höre ich das Stück. In den 80er-Jahren haben wir als Studenten Kassetten kopiert und per Post verschickt, weil Platten teuer waren. Wenn ich das heute erzähle, klingt das tatsächlich wie aus einem anderen Jahrhundert! Heute müssen junge Musiker aus einer Überfülle an Informationen selektieren. Aber sie suchen sich mit großer Konsequenz ihren Weg durch dieses Dickicht. SN: Die wirtschaftlichen Spielräume sind im Jazz hingegen enger geworden. Wie riskant ist die Gründung einer Bigband? Vielleicht habe ich das Orjazztra Vienna auch aus einem gewissen Trotz gegründet: Ich wollte mir das nicht nehmen lassen, nur aufgrund der Umstände. Ich muss die Umstände verändern, indem ich es trotzdem mache. Und ich hatte das Glück, Förderer zu finden, die mir vertrauten, bevor sie einen Ton hören konnten. Aber man muss sich nur die Kulturberichte durchlesen, um zu sehen, dass die meisten Förderungen in die Klassik fließen. Auch Jazzveranstalter können seltener Möglichkeiten für große Bands bieten. Carla Bley kann sich seit 15 Jahren keine Bigband leisten. Und sie ist eine der wichtigsten Stimmen der Jazzgeschichte. SN: Sind Frauen in klassischen Orchestern selbstverständlicher präsent als in Jazzbands? Mich freut es sehr, dass im Orjazztra mehr als ein Drittel der Mitglieder weiblich ist. Das Projekt soll auch junge Musikerinnen vor den Vorhang holen. In der Hinsicht ist der Jazz noch weit hinter der Klassik. Dabei muss man wunderbare Musikerinnen nicht lang suchen, man muss sie nur gleich wahrnehmen wie Männer, dann sind sie da.