Vorwürfe konnten Plácido Domingo nichts anhaben
Musik für alle und in allen Spielarten: Mit einer kräftigen Neuausrichtung feiert das Jazzfestival Saalfelden Geburtstag und schaut nach vorn.
Plácido Domingo tat, wofür er verehrt wird: Er sang am Sonntag bei den Salzburger Festspielen, diesmal in Verdis „Luisa Miller“, und wurde von seinen treuen Fans umjubelt. Bereits vor der Ouvertüre zeigte sich das Gesangsensemble geschlossen mit dem Star, der dieser Tage mit #MeToo-Vorwürfen konfrontiert wird. Einige Fans des spanischen Sängers hatten vor der Aufführung mit Blumensträußen vor dem Großen Festspielhaus auf Domingo gewartet, der aber durch einen Seiteneingang ins Gebäude gelangt war.
Apple, Coca-Cola, Amazon: Vor wenigen Tagen ließen die Chefs der drei Großkonzerne aufhorchen. Gemeinsam mit fast 200 US-Wirtschaftskapitänen forderten sie ein Überdenken des Kapitalismus: Es dürfe künftig nicht mehr nur darum gehen, Gewinne zur Freude der Aktionäre zu maximieren. Alle Beteiligten am Ertragsprozess sollten profitieren. Ob die Unterzeichner zuvor vielleicht ein Konzert des New Yorker Quartetts Sunwatchers besucht haben?
Die vier Musiker, die beim Jazzfestival Saalfelden am Samstag nach Mitternacht als letzte Band des bisher stärksten Festivaltags die Hauptbühne okkupierten, verknüpfen ihre psychedelisch rockenden Improvisationen gern mit zornigen kapitalismuskritischen Botschaften. Dabei berufen sie sich auch auf den Geist des Free Jazz und die gesellschaftspolitische Kraft, die er in den 1960er-Jahren freisetzte. Auch ihren Namen hat die Band von Jazzikone Albert Ayler geborgt.
Dem Geist des großen Jazz-Querdenkers war dennoch zuvor James Brandon Lewis mit seinem furiosen Quartett näher gekommen. Seine Botschafen – das Projekt des Saxofonisten heißt „Unruly Manifesto“, also: Widerspenstiges Manifest – entluden sich in Improvisationen, in denen rabiate Aufgewühltheit und hymnisch-seelenvolle Passagen gleichen Stellenwert genießen.
Ums Gemeinwohl ging es bei der Geburtstagsausgabe des Jazzfestivals Saalfelden, das zum 40. Mal stattfand, unterdessen auch dem Bassisten Lukas Kranzelbinder. Unter dem Motto „#BassToThePeople“organisierte er an ungewöhnlichen Orten Flashmobs, also kurze Spontanauftritte mit wechselnden Kollegen, die ganz kurzfristig angekündigt wurden. „Flashmob in 15 Minuten in der Herrentoilette im Congress mit Wiesinger und Kranzelbinder!“, hieß es etwa in einer PushNachricht, die direkt auf den Handy-Displays all jener Festivalbesucher landete, die schon die neue Jazzfestival-App heruntergeladen
Überraschungsauftritt auf der Herrentoilette
hatten. Apotheken oder ein FastFood-Restaurant wurden da zur Bühne, nicht selten zur Überraschung der Geschäftsleute.
Manche mochten sich bei dem neuen Format sogar an die Anfänge in den späten 70er-Jahren erinnert fühlen: Auch damals fanden nur Eingeweihte den Weg zur „Ranch“, wo die ersten Konzerte stattfanden. Von Wirten und Wirtschaftstreibenden wurden sie weniger überrascht, sondern meist eher skeptisch beäugt. Das hat sich längst verändert: Jazz sei ein zentraler Standortfaktor, hieß es auch heuer in den Eröffnungsreden, das Festival sei der wichtigste Event im Jahr.
Und zum Jubiläum ist es auch noch einmal kräftig gewachsen. Mit neuen Formaten, neuen Bühnen, 70 statt 40 Konzerten und einem erhöhten Anteil an Gratisangeboten ist das Konzept von Intendant Mario Steidl, das Festival stärker in der Stadt zu verwurzeln, heuer sichtlich aufgegangen. Die Bühne auf dem Stadtplatz bot leichtere Jazzkost, im alten Bezirksgericht verhandelten Maja Osojnik und Lukas König als Artists in Residence diffizilere Fälle. Dort wie da war der Andrang groß. Die zahlpflichtigen Hauptkonzerte im Congress und Nexus scheinen unter den Gratisschienen nicht zu leiden: Die Short Cuts waren seit Langem ausverkauft, die Sitzplätze im Congress zu jeder Tages- und Nachtzeit belegt.
Ein anderer Nebeneffekt des neuen Konzepts: Das eigentliche Eröffnungsprojekt auf der Hauptbühne, das Saalfelden stets an heimische Musiker vergibt, rutschte vom Anfang in die Mitte: Begonnen hatte das Festival ja schon am Mittwoch. Als Bassist Manu Mayr am Freitagabend sein Auftragsprojekt „Steinernes Meer“mit Bassklarinettistin Susanna Gartmayer präsentierte, war in Saalfelden also streng genommen schon Halbzeit. Musikalisch erforschte Mayr auf der großen Bühne Spannungszustände, die sich in kleinster Besetzung erzeugen lassen. Eine vielbejubelte Premiere boten auch Christian Muthspiel und sein starkes, 17-köpfiges Orjazztra Vienna. Bei anderen AllStar-Besetzungen war hingegen auch Leerlauf zu hören, so im Projekt T(r)opic von Rob Mazurek. Überzeugend klangen dafür die vereinten Kräfte von Sylvie Courvoisier, Ken Vandermark, Nate Wooley und Tom Rainey.
Dass Free Jazz und orchestrale Präzision, Noise und Elektronik, Avantgarde-Rock und Bebop 2.0 (etwa von Pianistin Sarah Tandy) locker nebeneinander existieren, ist eine Saalfelden-Qualität, die sich bei allen Neuerungen wohl künftig halten wird: Auch vom Jazz sollen möglichst viele etwas haben.