Wozu wählen wir eigentlich?
Das werden sich nach der nächsten Regierungsbildung möglicherweise viele Wählerinnen und Wähler fragen.
Wenn ein Parteichef über seinen Parteifreund sagt, dass dessen Aussagen lediglich dessen „Privatmeinung“zum Ausdruck bringen, dann deutet das im Politiksprech auf ein tiefes Zerwürfnis hin.
Und wenn besagter Parteichef den Wunsch seines kürzlich zurückgetretenen Parteifreundes nach einer Rückkehr in die Politik ablehnt und noch hinzufügt: „Ich glaube, er sieht das anders, aber ich sehe das so“, dann sollte man sich von der Vorstellung verabschieden, dass die beiden dicke Freunde sind.
Bemerkenswerterweise hat all dies der neue FPÖ-Chef Norbert Hofer über seinen Vorgänger Heinz-Christian Strache gesagt. Feind, Todfeind, Parteifreund! Wer sich in Erinnerung ruft, wie eng einst das menschliche und politische Zusammenwirken der beiden Herren war, der kann ermessen, was hier an Disruption passiert ist. Strache war ohne Hofer nicht denkbar und umgekehrt, Strache hat Hofer blind unterstützt (im Präsidentschaftswahlkampf) und umgekehrt (im politischen Tagesgeschäft, das über weite Strecken Hofer erledigte). Einer war des anderen Alter Ego. Die beiden freiheitlichen Spitzenpolitiker waren gewissermaßen das Yin und Yang der Freiheitlichen Partei. Jetzt gibt es nur noch Yin.
Es handelt sich hier nicht (nur) um die Beziehungskiste zweier Männer, sondern um eine hochpolitische Angelegenheit. Norbert Hofer hat mehrfach betont, dass es sein Ziel sei, die FPÖ nach der Wahl wieder in die Bundesregierung zu führen. Dieses Streben bringt die FPÖ auch in der ersten Welle ihrer Wahlplakate deutlich zum Ausdruck, die am Freitag vorgestellt wurde: „Koalition für unsere Heimat fortsetzen“, ist da vor rot-weiß-rotem Hintergrund zu lesen. Weiters zu sehen sind auf den Plakaten Parteichef Norbert Hofer und Klubchef Herbert Kickl – eine Bildauswahl, die wohl den Eindruck zerstreuen soll, dass es zwischen den beiden neuen mächtigen Männern der FPÖ – also dem sanft blickenden und sprechenden Hofer und dem scharfen Kickl – ein Zerwürfnis geben könnte.
Wenn sich die FPÖ als regierungsfähig schmücken will, kann sie Strache und alles, was an ihn gemahnt, nicht brauchen. Weder die Erinnerung an die unsagbar peinlichen Bilder von Ibiza. Noch den Anschein der Korruption, den Strache im Gespräch mit einer vermeintlichen Oligarchin erweckt hat. Die FPÖ kann weder die Casino-Ermittlungen gegen Strache brauchen noch dessen weinerliche Facebook-Einträge. Strache ist für die neue Parteiführung wie ein nicht gesellschaftsfähiger Onkel, den man wegsperrt, wenn Besuch kommt: eine Peinlichkeit und Belastung. Die Peinlichkeit und Belastung könnte noch größer werden, falls eines Tages durchsickert, welche SMS und Mails auf Straches Handy zu finden sind, das die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte.
Es ist nicht auszuschließen, dass Hofers Kalkül aufgeht. Dass also die Ibiza- und Strachegeschädigten Freiheitlichen die Nationalratswahl mit nicht allzu großen Verlusten hinter sich bringen und tatsächlich wieder in die Regierung treten, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz im Mai die Koalition mit den apodiktischen Worten beendete: „Die FPÖ kann nicht.“Vielleicht wird Kurz diese Meinung wieder ändern. Denn so absurd es angesichts der Ibiza-Wirren klingen mag: Die Ausgangsposition für die FPÖ ist nicht übel.
Da ist zum einen der Umstand, dass die freiheitlichen Kernwähler – das legen die Umfragen nahe – ihrer Partei den Strache-Auftritt von Ibiza nicht übel nehmen. Das Jahr 2002, als die FPÖ so wie heuer aus der Regierung flog und daraufhin vom Wähler fürchterlich abgestraft wurde, scheint sich also nicht zu wiederholen. Die Freiheitlichen sind allen Wirren zum Trotz immer noch eine solide Mittelpartei.
Da ist zum anderen der Umstand, dass die Freiheitlichen – anders als 2002, als der heimliche Parteichef Jörg Haider ständig aus Kärnten in die Bundespartei hineinfunkte – derzeit geschlossen auftreten. Offenbar hat Ibiza die Partei in ihrer Trauer geeint.
Und da ist zum Dritten der Umstand, dass Sebastian Kurz, dem alle Umfragen einen Wahlsieg prognostizieren, möglicherweise gar keinen anderen Koalitionspartner finden wird als die FPÖ. Denn die SPÖ wird Kurz nicht den Juniorpartner machen wollen, und vor allem will Kurz nicht mit der SPÖ regieren. Und mit den übrigen Parteien (Grüne, Neos) wird wohl keine parlamentarische Mehrheit zustande kommen.
Die Partei, deren Obmann die Wasserversorgung privatisieren, Staatsaufträge an eine Oligarchin verscherbeln und die Medienlandschaft orbánisieren wollte, ist also auf dem besten Weg zurück in die Regierung. Was die Frage aufwerfen wird: Wozu wählen wir eigentlich?