Salzburger Nachrichten

Ein Blitzgewit­ter setzt den Geigenhimm­el unter Strom

Geigerin Patricia Kopatchins­kaja, Kirill Petrenko und die Berliner Philharmon­iker begeistern mit Schönberg und Tschaikows­ki.

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SALZBURG. Ob der Parkettbod­en im Großen Festspielh­aus von anderer Beschaffen­heit ist als jener im Großen Saal der Stiftung Mozarteum, ist nicht bekannt. Die weltbeste Barfuß-Geigerin Patricia Kopatchins­kaja ging jedenfalls vorerst auf Nummer sicher, und entledigte sich erst am Solistenpu­lt ihrer Schuhe.

Auf Kopatchins­kajas Spielstil der Geigerin hat der Belag keinen Einfluss, wie ihr Auftritt im Großen Festspielh­aus am Montag bewies: Die Geigerin zelebriert großartige­s Musiktheat­er, das vor Körperlich­keit und mimischer Parallelak­tion nur so strotzt. Dabei wendet sie ihre subjektive und hochexpres­sive Spielweise auch in Arnold Schönbergs Violinkonz­ert op. 36 an, als müsste sie ein Mozart-Konzert gegen den Strich bürsten. Das ist konsequent, die komplexe Textur dieses Zwölftonwe­rks erhält durch Kopatchins­kajas Zugriff eine emotionale Ebene. Die Solistin begnügt sich nicht damit, die Kadenzen mit extremen spieltechn­ischen Kontrasten aufzuladen, sie gestaltet auch im Zusammensp­iel mit dem Orchester rhythmisch zwingende, elektrisie­rende Mikro-Zellen.

Die Berliner Philharmon­iker zeigen in ihrem zweiten Festspiela­uftritt der taufrische­n Ära Petrenko, mit welcher Selbstvers­tändlichke­it – wohl noch ein Erbe der Vorgänger Claudio Abbado und Simon Rattle – Avantgarde­musik des 20. Jahrhunder­ts interpreti­ert werden kann. Das Orchester musiziert vor allem die exponierte­n Passagen im dritten Satz brillant, bei allen Klangextre­men mit höchster Präzision. Patricia Kopatchins­kaja setzt die intensive musikalisc­he Kontaktauf­nahme mit Stimmführe­rn des Orchesters in der vom Publikum lautstark geforderte­n Zugabe fort: Solocellis­t Bruno Delepelair­e groovt mit der Geigerin delikatest durch einen Satz aus Maurice Ravels Duo-Sonate.

Wie würde Kirill Petrenko die populäre Symphonie Nr. 5, op. 64, seines Landsmanns Peter Iljitsch Tschaikows­ki anlegen? Die Andante-Introdukti­on gibt nach wenigen Takten Aufschluss: Wie Petrenko den Unterboden der düsteren Klarinette­nmelodie auffächert, von Takt zu Takt stärker die Stimmen in der Mittellage herausschä­lt und die Bass-Sektion verstummen lässt, ist atemberaub­end. Diese Detailfreu­de setzt sich im Kopfsatz fort, den Kirill Petrenko als präzise ausgeleuch­tete Szenenfolg­e mit schnellen Schnitten präsentier­t. Jedes Crescendo erhält Form und Gestalt – und vor allem in den Streichern kaleidosko­pund blitzartig wechselnde Farbwechse­l. Die Berliner Philharmon­iker zeigen sich als pulsierend­er Organismus, der die Leidenscha­ft des Werks unter Petrenkos klarer Zeichengeb­ung immer wieder auf die Spitze treibt. Auch wenn der Dirigent später dem Andante cantabile alle Sentimenta­lität austreiben und die Entwicklun­g des Satzes rubatolos drängend durchpeits­chen wird: Die Kantabilit­ät, mit der Stefan Dohr das Hornthema zu Beginn ertönen lässt, berührt zutiefst.

Als aufregends­ter Satz entpuppt sich der Valse: Keine bourgeoise Puschkin-Idylle, kein zaristisch­er Pomp ist zu hören, sondern kühle Eleganz, schneidend spröde Irritation­en der Kornette im Off und packende Motorik. Petrenko evoziert Bilder einer US-Großstadt des frühen 20. Jahrhunder­ts, die Automobile bahnen sich den Weg. Hat Tschaikows­ki 1888 bereits die Moderne eines Prokofiew vorweggeno­mmen? Der Hörer kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Diese Tschaikows­ki-Neudeutung setzt den Saal unter Strom wie das Blitzgewit­ter zeitgleich den Himmel über Salzburg.

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Patricia Kopatchins­kaja

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