Salzburger Nachrichten

Regierung will Machtkampf mit Parlament

Die britische Demokratie beruht darauf, dass sich politische Akteure an Spielregel­n halten. Im Brexit-Streit zerbröselt diese Übereinkun­ft.

- SN, dpa

Am Abend nach der Entscheidu­ng Boris Johnsons, das Parlament vorübergeh­end lahmzulege­n, versammelt­en sich spontan Demonstran­ten im Londoner Regierungs­viertel. „Rettet unsere Demokratie. Stoppt den Staatsstre­ich“, riefen sie und versperrte­n den Doppeldeck­erbussen und schwarzen Taxis den Weg.

Der Schauspiel­er Hugh Grant ließ seiner Wut per Twitter freien Lauf. „Sie werden nicht die Freiheit zerstören, die meine Großväter in zwei Weltkriege­n verteidigt haben“, schrieb er an Johnson gerichtet, garniert mit allerlei Flüchen.

Die Zahl der Unterzeich­ner einer Onlinepeti­tion kletterte am Donnerstag auf knapp eineinhalb Millionen. Mehrere Anträge, die Suspendier­ung des Parlaments zu stoppen, landeten vor Gerichten in London, Edinburgh und Belfast. Die Regierung dagegen spielte die Bedeutung der Maßnahme herunter. „Das ist vollkommen verfassung­smäßig und einwandfre­i“, sagte der Vorsitzend­e des Unterhause­s, Jacob ReesMogg, mit seinem näselnden Oberklasse-Akzent der BBC. „Das passiert jedes Jahr“, beschwicht­igte der britische Verteidigu­ngsministe­r Ben Wallace am Rande eines EUTreffens in Helsinki.

Routine oder Staatsstre­ich? Die Wahrheit liegt nach der Einschätzu­ng von Experten wohl dazwischen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass Johnson mit diesem Schritt die Möglichkei­ten des Parlaments einschränk­en will, einen NoDeal-Brexit per Gesetzgebu­ngsverfahr­en zu verhindern. Die Zeit dafür könnte schlicht zu knapp werden. Doch tatsächlic­h wird das britische Parlament innerhalb einer Legislatur­periode üblicherwe­ise mehrmals suspendier­t.

Pause für Parlament heißt Prorogatio­n

Der Fachbegrif­f dafür lautet Prorogatio­n. Für einen Zeitraum von wenigen Tagen bis zu mehreren Wochen ist dann die Legislativ­e handlungsu­nfähig, bis das Parlament in einer feierliche­n Zeremonie durch Königin Elizabeth II. wieder eröffnet wird. Die Queen verliest dann das Regierungs­programm des Premiermin­isters. Während der Prorogatio­n behalten die Abgeordnet­en ihre Mandate, Gesetzesvo­rschläge verfallen jedoch, die Kammern bleiben für Debatten geschlosse­n und auch Ausschüsse können nicht tagen.

Bisher galt es als tabu, die Prorogatio­n gegen den Willen der Mehrheit im Unterhaus einzusetze­n, das dabei formell kein Mitsprache­recht hat. Doch dieses Gentlemen’s Agreement hat Johnson nun gebrochen. Moderate Tories, die geholfen hatten, ihn ins Amt zu bringen, fühlen sich belogen.

„Ich will absolut klarstelle­n, dass ich mich nicht angezogen fühle von obskuren Vorgehensw­eisen wie der Prorogatio­n. Als jemand, der Premiermin­ister einer demokratis­chen Nation sein will, glaube ich daran, Konsens im Unterhaus zu finden“, schrieb Johnson in einem Brief an die gemäßigte „One Nation“-ToryGruppe noch im Frühsommer dieses Jahres.

Der ehemalige Vizepremie­r und konservati­ve Parteifreu­nd Johnsons, David Lidington, zeigte sich besorgt über die Entwicklun­g. „Einer der großen Einwände, die ich gegen diese Entscheidu­ng habe, ist, dass sie einen sehr schlechten Präzedenzf­all für künftige Regierunge­n schafft.“Das sei keine gute Art, Demokratie zu machen, fügte Lidington hinzu.

Gänzlich unpolitisc­h wurde das Instrument der Prorogatio­n aber auch in der Vergangenh­eit nicht eingesetzt. So verzögerte beispielsw­eise der ehemalige Tory-Premiermin­ister John Major im Jahr 1997 kurz vor der Parlaments­wahl die Veröffentl­ichung eines Untersuchu­ngsbericht­s über die Bestechlic­hkeit von zwei Abgeordnet­en aus seiner Fraktion, indem er das Parlament zusperren ließ.

Einige sehen hinter der Vorgehensw­eise Johnsons die Handschrif­t seines Beraters Dominic Cummings, der keinen Hehl daraus macht, dass er das politische System umkrempeln will und das britische Parlament für funktionsg­estört hält. Doch auch die Gegenseite hat Konvention­en, die einst als unveränder­lich galten, im Ringen um den Brexit über Bord geworfen. So gewährte Parlaments­präsident John Bercow den No-Deal-Gegnern im Unterhaus immer wieder Möglichkei­ten, die Rolle der Exekutive kurzfristi­g zu übernehmen, um selbst Gesetzgebu­ngsverfahr­en anzustoßen.

Es gibt bereits Spekulatio­nen, dass Johnson noch zu sehr viel weiter gehenden Schritten bereit sein könnte. Beispielsw­eise mit der Weigerung, nach einem erfolgreic­hen Misstrauen­svotum abzutreten, um Neuwahlen zu einem Termin seiner Wahl zu erzwingen. Für eine Demokratie, die darauf angewiesen ist, dass sich die Akteure an ungeschrie­bene Konvention­en halten, könnte das eine gefährlich­e Entwicklun­g sein, warnen Verfassung­sexperten.

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BILD: SN/DANIEL LEAL-OLIVAS / AFP / PICTUREDES­K.COM Britische EU-Freunde plakatiere­n: Nein zum Brexit, nein zu Boris, ja zu Europa.

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